Die Renaissance der Relativität
Text: Alexander Blum
Die Entwicklung der allgemeinen Relativitätstheorie jährt sich 2015 zum hundertsten Mal. Im November 1915 legte Albert Einstein der Preußischen Akademie der Wissenschaften im Wochentakt Berichte vor, in denen er die grundlegenden Feldgleichungen seiner neuen Theorie sowie deren Anwendung auf die Perihelverschiebung des Merkurs ausarbeitete.
Vier Jahre später erfuhr eine der grundlegenden Voraussagen der Theorie - die Krümmung des Lichts im Schwerefeld der Sonne - durch eine von Arthur S. Eddington geleitete Sonnenfinsternisexpedition auf der Insel Principe eine eindrucksvolle Bestätigung. Einstein wurde quasi über Nacht zu einer internationalen Berühmtheit und gilt seitdem als Inbegriff des genialen Wissenschaftlers.
Diese beispiellose Erfolgsgeschichte ist oft erzählt und eingehend erforscht worden. Weniger bekannt ist die weitere Geschichte der allgemeinen Relativitätstheorie, die – gerade im Vergleich mit diesen spektakulären Anfängen - eine auf den ersten Blick überraschende Wendung nahm. Denn nach dem anfänglichen Hype hat der Wissenschaftshistoriker Jean Eisenstaedt einen Tiefstand im Interesse und in der Forschung an der Theorie ausgemacht („low-watermark period“). Diese Phase dauerte ungefähr von Mitte der 1920er- bis Mitte der 1950er-Jahre an.
Auf diesen Tiefstand folgte ein eindrucksvolles Wiedererwachen des Interesses, das von dem Physiker Clifford Will als „Renaissance“ der allgemeinen Relativitätstheorie bezeichnet wurde: Diese war bis dahin vornehmlich zur Berechnung kleinster Korrekturen zu den Voraussagen der newtonschen Gravitationstheorie innerhalb unseres Sonnensystems angewandt worden. Nun wurde sie wichtig für die Beschreibung weit entfernter Himmelskörper.
Deren unerwartete Eigenschaften ließen sich mithilfe von neuen, der Theorie abgewonnenen Konzepten erklären: so etwa das Modell des schwarzen Lochs – eines astronomischen Objekts mit einem so starken Gravitationsfeld, dass nicht einmal Licht entweichen kann.
In den 1960er- und 1970er-Jahren rückte die allgemeine Relativitätstheorie zurück in den Fokus der Aufmerksamkeit. Forscher, die sich mit dieser Theorie und mit schwarzen Löchern beschäftigten, wurden ein halbes Jahrhundert nach Einsteins Triumph zu Superstars der Physik, allen voran der Engländer Stephen Hawking.
Um diese historische Dynamik zu untersuchen, hat die Abteilung I des Max-Planck-Instituts für Wissenschaftsgeschichte eine Arbeitsgruppe etabliert, in der Historiker der modernen Physik und internationale Experten für die allgemeine Relativitätstheorie und ihre Geschichte kooperieren. Diese Arbeit ist - auch in Vorbereitung auf eine große Konferenz aus Anlass des Jubiläums im November (gemeinsam mit dem Albert-Einstein-Institut in Potsdam-Golm) – in vollem Gange.
Vorläufige Ergebnisse erlauben bereits ein erstes Verständnis der oben erwähnten Abfolge von Niedergang und Wiedererwachen der allgemeinen Relativitätstheorie. Hierbei spielen natürlich die veränderten Bedingungen für die Naturwissenschaften, und gerade für die Physik, nach dem Zweiten Weltkrieg und im Kalten Krieg eine große Rolle. Nachdem Physiker mit dem Bau der Atombombe ihre Wichtigkeit für die „nationale Sicherheit“ unter Beweis gestellt hatten, wurde in den Nachkriegsjahren viel Geld in die physikalische Forschung gesteckt, und auch die Zahl der jungen Physikabsolventen nahm ungeahnte Ausmaße an.
Gleichzeitig eröffneten die im Krieg entwickelten Technologien ganz neue Forschungsfelder. So konnten etwa in der Radarforschung entwickelte Methoden zum Nachweis von Radiowellen nun verwendet werden, um Himmelskörper zu beobachten, die nicht zufällig in dem vom menschlichen Auge wahrnehmbaren Spektralbereich leuchteten: Die Radioastronomie war geboren. Sie erlaubte in den frühen 1960er-Jahren den Nachweis ferner, sternartiger Objekte, die ganz andere Eigenschaften aufweisen als unsere Sonne: Diese sogenannten Quasare strahlten so stark, dass Sie für Radioteleskope sichtbar waren, obwohl sie Milliarden von Lichtjahren entfernt waren. Im Rahmen der allgemeinen Relativitätstheorie wurden sie dann bald als stetig wachsende schwarze Löcher gedeutet.
Es war jedoch keineswegs ausgemacht, dass die Forschung an der allgemeinen Relativitätstheorie von dem Boom in der Physik würde profitieren können, galt sie doch um 1950 als ein sehr abseitiges und wenig fruchtbares Gebiet. Genauso wenig hätte sie unmittelbar von den neuen astronomischen Beobachtungen Nutzen ziehen können, wären die neuen theoretischen Konzepte, die für die Erklärung dieser Beobachtungen herangezogen wurden, nicht bereits vorher – in den späten 1950er- und frühen 1960er-Jahren – ausgearbeitet worden. Um an diesen Entwicklungen teilhaben zu können, mussten Physiker die allgemeine Relativitätstheorie erst neu erfinden.
In den Jahrzehnten des Tiefstands war die allgemeine Relativitätstheorie vor allem mathematisch und philosophisch von Interesse: Die Einsteinschen Feldgleichungen lieferten, fernab von konkreten physikalischen Fragestellungen, aufgrund ihrer komplexen Struktur ein reges Betätigungsfeld für Mathematiker.
Gleichzeitig bot sie, mit ihrer neuartigen Vorstellung einer gekrümmten Raumzeit, die Grundlage für Versuche, eine vereinheitlichte Theorie der gesamten Physik oder eine Theorie der Entwicklung des Universums als Ganzes (Kosmologie) zu konstruieren. Diese frühen Versuche waren jedoch hauptsächlich von grundlegenden philosophischen Fragestellungen getrieben und hatten wenig Bezug zum Mainstream der physikalischen Forschung.
In den 1950er-Jahren begann sich dies zu ändern: Eine neue Mobilität ermöglichte ein Zusammentreffen von internationalen Wissenschaftlern, die zuvor relativ isoliert auf der Grundlage der allgemeinen Relativitätstheorie an solch randständigen Problemen der Physik gearbeitet hatten. Ein Schlüsselereignis ist hierbei eine Konferenz in Bern im Jahre 1955, die einen Startpunkt darstellt für die Etablierung einer internationalen Gemeinschaft von Physikern, die sich als „Relativisten“ verstanden.
Diese Konferenz fand aus Anlass des 50-jährigen Jubiläums der speziellen Relativitätstheorie statt, und Albert Einstein war natürlich als Ehrengast vorgesehen. Sein Tod wenige Monate vor der Konferenz wurde von den Teilnehmern auch als ein Zeichen verstanden, dass es nun an Ihnen war, die Einsteinsche Tradition fortzuführen.
Die in den folgenden Jahren vorangetriebene Institutionalisierung dieser Gemeinschaft – mit regelmäßigen Konferenzen, spezialisierten Zeitschriften und einem regen Austausch junger Wissenschaftler zwischen den weit verstreuten Zentren dieser Forschung – geschah zum Teil nach dem Vorbild etablierter Unterdisziplinen der Physik, wie der Kernphysik. Aber, im Vergleich zu den Kernphysikern, musste sich diese Gemeinschaft, die „General Relativity and Gravitation Community,“ in viel höherem Maße selbst erfinden; daher war sie, gerade auf dem Gebiet der internationalen Vernetzung, gleichsam Vorreiter.
Damit eine solche Gemeinschaft geschaffen werden konnte, mussten Physiker auch gemeinsame Fragestellungen entwickeln. Und hierbei rückten nun physikalischere Fragestellungen stärker in den Vordergrund. Ein Beispiel ist die Berechnung und der mögliche Nachweis von Gravitationswellen; ein anderes die Gravitation sehr dichter, massiver Sterne.
Durch solche Fragestellungen stellten Relativisten Verbindungen zu anderen Unterdisziplinen der Physik her, da solch dichte Objekte auch mit den Methoden der Kernphysik beschrieben werden konnten und mussten. Und sie entwickelten die theoretischen Begriffe, die dann – mit den astronomischen Entdeckungen der frühen 1960er-Jahre – die allgemeine Relativitätstheorie eindrucksvoll als eine empirische, physikalische Theorie mit unerwartet großem Anwendungsgebiet etablierten. Ein Status, den sie in ihren zweiten 50 Jahren zementiert hat.