Der etwas andere Kollege
Autisten haben oft erstaunliche Fähigkeiten, die Unternehmen bereichern
Patientinnen und Patienten mit Autismus-Diagnose finden meist schwer einen Arbeitsplatz. Die Tagklinik für Störungen der sozialen Interaktion am Max-Planck-Institut für Psychiatrie unterstützt sie bei der Jobsuche – und beschreitet unkonventionelle Wege.
Ein riesiges Whiteboard mit Stundenplan: Ob Blutabnahme, Morgenrunde oder verschiedene Einzel- und Gruppentherapieangebote – bis ins kleinste Detail ist hier alles fein säuberlich und übersichtlich vermerkt. Der Wochenplan bietet Orientierung, Halt, Struktur. Sechs Wochen lang, Montag bis Freitag, von acht bis 16 Uhr.
In der Tagklinik in München lernen Erwachsene mit hochfunktionalem Autismus, mit den Herausforderungen der Arbeitswelt umzugehen, die für sie oft als unkontrollierbar erscheinen. „Vom Bewerbungsprozess über die ersten Schritte im neuen Unternehmen bis hin zum Small Talk: Mit unserem berufsorientierten Training unterstützen wir sie dabei, in den Job einzusteigen beziehungsweise zurückzufinden“, sagt Sozialarbeiterin Sabine Kießewetter. Gerade zwischenmenschliche Kommunikation stellt für viele eine Hürde dar. Die Begrüßung, die kurze Unterhaltung zwischendurch, der Blickkontakt im Bewerbungsgespräch – all das trainieren die Betroffenen in einem individuellen Coaching.
Nur Schwarz und Weiß
„Autisten nehmen ihre Welt einerseits sehr genau wahr und haben andererseits Schwierigkeiten, die Emotionen ihrer Mitmenschen intuitiv zu deuten“, erklärt Leonhard Schilbach. Der Psychiater ist Leiter der Ambulanz und Tagklinik für Störungen der sozialen Interaktion am MPI für Psychiatrie in München. Unpräzise formulierte Arbeitsaufträge führten im Berufsleben leicht zu Missverständnissen. Nachdem ein Hospitant beispielsweise Unterlagen gedruckt hatte und sein Chef ihn bat, weitere Dokumente erneut zu drucken („Und nun dasselbe in Grün!“), druckte jener die Unterlagen grün aus, erzählt Schilbach. An der Intelligenz der Jobsuchenden mangelt es selten, es sind die ungeschriebenen sozialen Gesetze, die zu Schwierigkeiten führen. Viele haben einen besonderen Blick für Details, eine Begabung, Muster zu erkennen, und sind stark im logischen Denken.
So wie Wolfgang Gaß: Der 46-Jährige hat sein Masterstudium in Biologie mit 1,9 abgeschlossen, ein Elektronikstudium und eine Ausbildung zum Maschinenbautechniker. Dennoch fand der Hochbegabte keinen Job. „Für was bin ich auf der Welt, wenn ich eh nicht gewollt werde und man meine Begabung und meine Talente nicht brauchen kann?", fragt er in der Vox-Serie „Ich, einfach unvermittelbar?“. In dem Format, das Ende 2018 ausgestrahlt wurde und für den Deutschen Fernsehpreis und den Grimme-Preis nominiert war, lernten Menschen mit Diagnosen wie Autismus oder Tourette-Syndrom anhand einer fachärztlichen Diagnostik, ihre wahren Stärken kennen. Mittlerweile arbeitet Gaß in der Nähe von Zürich.
Während der Dreharbeiten lernte er auch Leonhard Schilbach kennen – einen „sympathischen, viel beschäftigten Mann“, wie Gaß ihn beschreibt. Der Psychiater war ebenfalls für die Sendung gecastet worden, hatte sich die Teilnahme aber lange überlegt: „Obwohl das MPI für Psychiatrie in der Kooperation mit Arbeitgebern wie Auticon und BMW bereits unkonventionelle Wege beschreitet, zählt ein Auftritt in einer Fernsehserie nicht unbedingt zu den Aufgaben eines Arztes und Wissenschaftlers.“ Die Chance, die Diagnose zu enttabuisieren, war für Schilbach schließlich ausschlaggebend, sich dennoch auf dieses Experiment einzulassen. Seine Aufgabe bestand darin, die Stärken der autistischen Protagonisten herauszufinden.
Dass in Wolfgang Gaß großes Potenzial steckt, erkannte der Psychiater früh: „Er weiß viel über seinen Autismus, geht offen damit um und hat außergewöhnliche intellektuelle Fähigkeiten.“ Schilbach freute sich deshalb sehr, dass Gaß noch innerhalb der Serie eine Stelle bei einer Ausgründung der Goethe-Universität in Frankfurt angeboten wurde. Die beiden stehen nach wie vor miteinander in Kontakt.
„Ich bin nicht alleine!“
In Kontakt mit den Klinikmitarbeitern bleiben – das gelingt ehemaligen Patienten nach ihrem Aufenthalt in der Münchner Tagklinik eher selten. Und doch gibt es berührende Szenen zu beobachten, wie Assistenzärztin Judith Gollmitzer schildert: „Die meisten unserer Patienten haben einen jahrelangen Leidensweg hinter sich. Bei uns merken sie, dass sie nicht alleine mit ihren Problemen sind.“ Eine Erfahrung, die die Patienten nachhaltig prägt – bei ihren Schritten in ein zufriedeneres Berufs- wie auch Privatleben.
Von Barbara Abrell und Petra Maaß