„Wenn die EU einen Binnenmarkt will, muss sie auch den Zutritt von außen gemeinsam regeln“

Der Flüchtlingsandrang hat das EU-Asylsystem in eine Krise gebracht. Im Interview spricht Ulrich Becker, Direktor am Max-Planck-Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik, über „das Recht, das der Realität hinterherhinkt“, Korrekturmöglichkeiten und die Ergebnisse einer neuen Studie zu den sozialen Schutzrechten von Flüchtlingen in Europa.

Herr Becker, wir erleben in Deutschland eine Welle der Solidarität mit den Asylsuchenden. Gleichzeitig fragen sich die Leute, wie es sein kann, dass Flüchtlinge durch mehrere EU-Länder reisen, und quasi frei entscheiden, wo sie ihren Asylantrag stellen ...

Tatsächlich ist das eine Ausnahmesituation für das Recht. Es hinkt der Realität hinterher. Denn diese scheinbare Freizügigkeit ist nicht mit EU-Recht vereinbar. Nach dem sogenannten Dublin-System ist jener Mitgliedstaat, in dem ein Flüchtling die EU betritt, für das Asylgesuch und damit auch die Unterbringung während des Verfahrens zuständig. Aber viele Grenzstaaten können das vom Verwaltungsaufwand her gar nicht mehr leisten, lassen die Flüchtlinge also weiterreisen. Erfolgt eine Weiterreise, ist im tatsächlichen Zielland grundsätzlich eine Rücküberstellung vorgesehen. Das Grenzland bleibt zuständig, auch wenn der Asylantrag dann woanders gestellt wurde.

Aber ist es nicht so, dass diese Rücküberführung in einige Grenzstaaten rechtlich unzulässig ist?

Das ist dann der Fall, wenn ein Land systemisch die Mindeststandards zur Versorgung nicht erfüllt und dort Asylbewerbern eine unmenschliche Behandlung droht. So war es etwa in Griechenland im Jahr 2013. Das haben der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte und in der Folge der Europäische Gerichtshof in Luxemburg und auch das Bundesverfassungsgericht festgestellt. Dabei handelt es sich natürlich um einen Rechtsbruch des an sich für die Aufnahme zuständigen EU-Landes, faktisch wird dieses Land aber von der Pflicht der Aufnahme und Wiederaufnahme befreit. Dies kann bedingt sein durch Überlastung. Der Mechanismus birgt aber auch die Gefahr, dass sich ein Land bewusst unter den Vorschriften „wegduckt“ – und letztlich dafür honoriert wird, indem Flüchtlinge nicht mehr dorthin zurückgeschickt werden dürfen.

Droht eine solche Entwicklung in Ungarn?

Grundsätzlich ist für jeden EU-Mitgliedstaat zu prüfen, ob nicht nur in Einzelfällen, sondern allgemein, also systemisch, die Aufnahmestandards verfehlt werden und eine menschenrechtswidrige Behandlung droht. Sicher besteht in manchen Staaten eher diese Gefahr, auch Ungarn hat schon Anlass zu entsprechenden Prüfungen geboten. Allerdings darf das nicht verwechselt werden mit dem Bemühen Ungarns, die Grenzübertritte durch die Errichtung eines Schutzzauns zu kontrollieren. In dieser Kontrolle allein liegt keine rechtswidrige Behandlung, wenn der Zugang zum Asylverfahren weiter gewährt wird.

Sehen Sie weitere Konstruktionsfehler des EU-Asylsystems?

Im Grunde genommen sollte die Aufnahme von Flüchtlingen viel mehr als bis jetzt eine Unionsaufgabe sein. Wenn wir einen freien Raum des Binnenverkehrs haben wollen, dann ist die Frage, wer von außen Zutritt bekommen soll, eine unionsweite Angelegenheit. Wir haben mit dem Dublin-Verfahren zwar entsprechende Regeln geschaffen, aber wir haben nicht ausreichend Unterstützung gegeben für die Länder, die diese Aufgabe in erster Linie wahrnehmen sollen, also die Erstaufnahmestaaten an den EU-Außengrenzen. Der zweite Punkt, warum das System nicht gut funktioniert: Das Asylrecht ist an bestimmte Voraussetzungen gebunden, die in einem Prüfverfahren festgestellt werden müssen. Um diese Verfahren kommen wir nicht umhin. Sie müssen effizienter ablaufen. Vielleicht helfen auch insofern die von der EU geplanten großen Erstaufnahmezentren, etwa in Griechenland. In der aktuellen Lage böten sich zudem weitere Rechtsinstrumente an, die mehr Effektivität erlauben.

Welche sind das?

Die EU könnte einiges mehr tun, wenn sie viel stärker von der Aufnahme per Kontingentverfahren Gebrauch machen würde. Einzelne Staaten machen dies ja auch national, aber das EU-Recht erlaubt dies auch auf europäischer Ebene. Damit werden die Grenzstaaten entlastet, weil beispielsweise syrische Flüchtlinge mit dem Status des vorübergehenden Schutzes direkt aus dem Libanon, der Türkei oder Jordanien gezielt nach Europa gebracht werden. Das Verfahren wird dabei ungemein erleichtert. Für die Menschen besteht keine Todesgefahr bei ihrer Reise über das Mittelmeer. Schlepper verdienen nicht Tausende Euro pro Flüchtling. Dazu ist natürlich die derzeit umstrittene Einigung auf den verbindlichen Schlüssel zur Verteilung der Flüchtlinge in Europa entscheidend.

Sie haben mit Kollegen für eine neue Studie das nationale Recht von 14 Staaten, darunter etliche EU-Länder, aber auch die Türkei und die USA verglichen, um herauszuarbeiten, wie es um den sozialen Schutz der Flüchtlinge jeweils bestellt ist …

Ja und diese Studie liefert zahlreiche Fakten, wie Flüchtlinge untergebracht werden sollen oder wie die Gesundheitsversorgung geregelt ist. Auch wenn die Praxis aktuell sehr stark abweicht, geben die Länderberichte und die vergleichenden Kapitel eine gute analytische Übersicht. Insgesamt gilt festzuhalten: Oftmals gehen die Staaten beim Schutz von Flüchtlingen nicht über die von der EU eingeforderten Mindeststandards hinaus. Bei den Leistungen zum Lebensunterhalt, die gegenüber dem allgemeinen Hilfeniveau des jeweiligen Landes abgestuft sein können, besteht beispielsweise die Gefahr, dass das Existenzminimum unterschritten wird. Das liegt daran, dass die unionsrechtlichen Vorgaben da relativ offen sind.

Was leiten Sie daraus ab?

Insbesondere über die Frage eines sozio-kulturellen Existenzminimums herrscht keine Einigkeit in der EU. So sind für Leistungsberechtigte in Deutschland 143 Euro als monatliche Barzahlung vorgesehen, in Österreich sind es 40 Euro und Polen 12,50 Euro. Das sind große Differenzen, die natürlich im Zusammenhang mit anderen Leistungen und den unterschiedlichen Lebensumständen betrachtet werden müssen. Und es kann nicht darum gehen, in allen EU-Staaten denselben Geldbetrag festzusetzen. Aber das Beispiel verdeutlicht das dahinterliegende Dilemma: Die EU braucht ein gemeinsames Verständnis darüber, was unter einem Existenzminimum zu verstehen ist, welche Bestandteile dafür zu berücksichtigen sind. Im Übrigen darf man nicht vergessen, dass in manchen EU-Ländern gar kein flächendeckendes Sozialhilfeniveau besteht, an dem die Leistungssätze in Deutschland festgemacht werden. Selbst für anerkannte Flüchtlinge entsteht in diesen Ländern dadurch ein Problem, zumal sie nicht in ihrem gewohnten Umfeld leben. Sie haben nicht diese Familien- und Freundschaftsbeziehungen, die traditionell quasi als gesellschaftliches Sozialhilfesystem fungieren.

Wie realistisch halten Sie es, dass die EU angesichts der aktuellen Interessenkonflikte in der Flüchtlingskrise auf diesem Weg vorankommt?

Wir haben EU-weit gültige Mindeststandards, und es ist aus meiner Sicht Aufgabe der EU insgesamt, dafür zu sorgen, dass sie auch in den Grenzländern eingehalten werden. Zudem muss das Bewusstsein wachsen, dass die Aufnahme von Flüchtlingen eine Unionszuständigkeit ist und vielleicht – in Parallele zu der Zollunion – sogar eine ausschließliche Zuständigkeit der Union sein muss. Diese Sicht fällt den Mitgliedstaaten schwer, weil sie dafür Souveränität abgeben müssen. In jedem Fall herrscht derzeit großer Handlungsdruck. Und insofern kann die Krise auch eine Chance sein.

Das Gespräch führte Jens Eschert

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