Familienpolitik muss regional ansetzen

Geburtenrate hängt nicht nur von Einkommen und Kindereinrichtungen, sondern von kulturellem Leitbild ab

Deutschland wird in der öffentlichen Diskussion zumeist als Land mit niedriger Fertilität betrachtet, denn seit den 1990er-Jahren stagniert die Geburtenrate bei durchschnittlich 1,39 Kindern pro Frau. Diese Zahl erweckt den Anschein, dass sich Paare überall in Deutschland aufgrund ähnlicher Handlungs- und Orientierungsmuster für beziehungsweise gegen Kinder entscheiden. Doch die Geburtenraten unterscheiden sich von Region zu Region mitunter drastisch. Die Soziologin Barbara Fulda erklärt, welchen Einfluss regionale kulturelle Normen haben.

Junge, berufstätige Paare bekommen immer seltener Kinder. In vielen Überlegungen zur sinkenden Geburtenrate westlicher Staaten werden dafür die Schwierigkeiten, Beruf und Elternschaft zu vereinbaren, als Gründe angeführt. Doch lässt sich das so leicht verallgemeinern? „Eine Familie mit zwei Verdienern bekommt nicht zwangsläufig keine oder wenige Kinder“, sagt Soziologin Barbara Fulda vom Kölner Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung. „Genauso wenig ist der traditionelle Lebensentwurf mit nur einem Ernährer eine Garantie für Kinderreichtum.“

Um Beruf und Elternschaft besser zu vereinbaren, wird seit 2008 zwar verstärkt in den Ausbau der Kinderbetreuung investiert. Doch allen Bemühungen der Politik zum Trotz besteht der Zusammenhang „Mehr Kitas, mehr Kinder“ nicht überall: In manchen Gegenden Deutschlands ist die Anzahl der Geburten höher als es die Ausstattung mit öffentlichen Kinderbetreuungsmöglichkeiten vermuten ließe. Auch der Zusammenhang „Mehr Geld, mehr Kinder“ scheint angesichts der stabilen regionalen Geburtenunterschiede nicht zu gelten. So nimmt beispielsweise der Landkreis Osterode am Harz mit einer Geburtenrate von 1,4 bis 1,49 einen der hinteren Plätze ein, obwohl es sich um einen Kreis mit einem nominalen Bruttoinlandsprodukt je Erwerbstätigen von über 65.000 Euro handelt.

Neuer Ansatz in der Demografie-Forschung

„Regional unterschiedliche Geschlechterrollenvorstellungen beeinflussen die Akzeptanz familienpolitischer Maßnahmen. Damit können strukturelle Gegebenheiten wie die Anzahl an Kindergartenplätzen nur indirekt die Entscheidung für Kinder beeinflussen“, sagt Fulda. Mit dieser neuen Betrachtungsweise im Bereich der demografischen Forschung liefert die Soziologin auch Interpretationsansätze für die Familienpolitik: Durch den Einfluss kultureller Normen, insbesondere von Familienleitbildern, kann sie erklären, warum staatliche sozialpolitische Anreize gebietsweise unterschiedliche Effekte auf Familiengründung und -erweiterung haben und warum sie zuweilen sogar gänzlich wirkungslos bleiben.

So unterscheiden sich die Vorstellungen von Familie und dem familiären Zusammenleben in verschiedenen Regionen deutlich. Ein mögliches Indiz dafür ist die Zahl der Väter, die Elterngeld in Anspruch nehmen: Laut Statistischem Bundesamt besteht hier eine „klare regionale Konzentration“ im Süden und Südosten Deutschlands, in Bayern, Sachsen und Thüringen. Aber auch in fast allen Kreisen Brandenburgs nahm mehr als jeder vierte Vater 2012 Elterngeld in Anspruch.

„Meines Erachtens trägt ein kulturell tradiertes Familienverständnis – soziologisch ausgedrückt: ein Familienleitbild – und der dadurch beeinflusste Lebenskontext der Menschen zu diesen regionalen Diskrepanzen bei“, formuliert Fulda ihre Forschungsthese. Anlass für ihre Untersuchung waren dabei nicht allein die unterschiedlichen Geburtenraten, sondern auch die Tatsache, dass diese regionalen Unterschiede – trotz wachsender staatlicher Unterstützung – seit mehreren Jahrzehnten stabil geblieben sind: „Die soziostrukturelle Zusammensetzung der regionalen Bevölkerung und strukturelle Faktoren konnten für mich keine ausreichende Erklärung für dieses Phänomen liefern.“

Regionale Gegensätze im Familienleitbild können die staatliche Familienpolitik unterlaufen

Auf Basis dieser regionalen Auffälligkeiten hat Barbara Fulda ihre Forschungsfrage gestellt. Dabei zweifelt sie nicht an, dass die von der Fertilitätsforschung benannten Faktoren, wie Kindergartenplätze oder ökonomische Rahmenbedingungen wichtig für die Familiengründung sind, sondern ergänzt diese um eine weitere Einflussgröße. „Im Vergleich zu strukturellen Veränderungen wandeln sich kulturelle Prägungen nur sehr langsam. Das kann die Stabilität der regionalen Geburtenunterschiede erklären und zur Folge haben, dass familienpolitische Förderung nicht überall im gewünschten Maße angenommen wird.“

Für ihre Feldstudie hat Fulda zwei soziostrukturell ähnliche Gegenden in Süddeutschland ausgewählt. Obwohl Waldshut in Baden-Württemberg und Fürth in Bayern in dieser Hinsicht vergleichbar sind, weist Waldshut eine deutlich niedrigere, Fürth aber eine höhere Geburtenrate auf als zu erwarten wäre. Die Studie zeigt: Beide Fälle unterscheiden sich in ihren regionalen Kulturen in einer bestimmten Hinsicht, ihrem Familienverständnis: Während die Kultur Waldshuts als eher traditionell und wertebewusst eingestuft werden kann, trifft auf Fürth das Attribut „modern“ zu.

Der populäre positive Zusammenhang regionaler traditioneller Familienvorstellungen und der Anzahl an Kindern trifft hier jedoch nicht zu, wie Fulda zeigt. Vielmehr besteht ein positiver Zusammenhang zwischen einer gleichberechtigten Familienvorstellung und der Anzahl der Geburten. Erklärend ist hierfür ein ähnlich egalitäres Geschlechterverständnis in Arbeitswelt und Familie. Wenn beide Partner, wie in Fürth, in beiden Sphären ähnlich hohe Rechte und Pflichten haben, sind Kind und Beruf auch in Zeiten steigender Frauenerwerbstätigkeit und lockerer Partnerschaften miteinander vereinbar. Dieses in Fürth regional verbreitete Familienverständnis wirkt sich zudem auf das Niveau an außerfamiliärer Unterstützung in der Kindererziehung aus: Da in traditionellen Gegenden die eigene Familie einen Großteil der Erziehungsarbeit leistet, sind Vereinsstrukturen und öffentliche Kinderbetreuung weniger auf ihre Unterstützung in der Kindererziehung ausgerichtet. In Fürth ist dagegen akzeptiert und somit auch umsetzbar, dass außerfamiliäre Instanzen wie Vereine und öffentliche Kinderbetreuung Familien in größerem Umfang unterstützen.

Insgesamt erklärt somit erst die Zugehörigkeit von Individuen zu einem sozialen Kontext, warum in manchen Gegenden mehr oder weniger Kinder geboren werden, als anhand der strukturellen Gegebenheiten zu erwarten ist. „Da das nationale, positiv konnotierte Leitbild der erwerbstätigen Frau und dahingehende familienpolitische Förderungen dem regionalen Mutterleitbild widersprechen können, sind historisch gewachsene regionalkulturelle Familienleitbilder ein wichtiger Baustein, um einerseits deutliche regionale Unterschiede der Geburtenzahlen und andererseits das individuelle Geburtenverhalten im Allgemeinen besser zu erklären.“ Fulda plädiert deshalb dafür, bei der Konzeption familienpolitischer Maßnahmen künftig regionalkulturelle Unterschiede zu berücksichtigen. Familienpolitische Maßnahmen haben mehr Aussicht auf Erfolg, wenn sie regionale Besonderheiten anerkennen und lokale Entscheidungsträger mit einbezogen werden.

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