Bioinformatik und Epigenetik – Computerbasierte Krebsdiagnostik
Max-Planck-Forscher nutzen ausgeklügelte Software-Programme bei der Suche nach Biomarkern für die klinische Krebsdiagnostik
Das noch junge Forschungsfeld der Epigenetik ist momentan in aller Munde. Viele Wissenschaftler erwarten bei der Erforschung der biochemischen Modifikationen jenseits des eigentlichen DNA-Strangs in den kommenden Jahren gewaltige Fortschritte im Verständnis der Regulation von Genaktivität. Wie vielversprechend Ergebnisse epigenetischer Forschung für konkrete medizinische Anwendungen sind, zeigt die Arbeit von Thomas Lengauer und Christoph Bock vom Max-Planck-Institut für Informatik in Saarbrücken. Computerbasiert durchforsten sie das Erbgut von Krebspatienten nach verdächtigen Strukturen und entwickeln neue, schnelle und einfache Tools, die in Kliniken die Krebsdiagnose verbessern.
Text: Nils Ehrenberg
Obwohl der menschliche Körper aus kaum vorstellbaren 10 bis 100 Billionen Zellen besteht, kann bereits eine einzige kranke Zelle Krebs auslösen. Schon kleine Schäden im Erbgut, zum Beispiel als Folge von UV-Licht oder Tabakrauch, können die natürliche Wachstumsschranke einer Zelle ausschalten: Sie beginnt, sich unkontrolliert zu teilen, überwuchert im schlimmsten Fall als Tumor gesundes Körpergewebe und zerstört damit lebenswichtige Organe.
Lange galt dabei das Dogma: Nur Veränderungen in der DNA selbst sind bei der Krebsentstehung entscheidend. Doch heute ist klar, auch der biochemische „Überzug“ des DNA-Strangs spielt eine wichtige Rolle. Denn das Erbgut einer Zelle wird durch eine Vielzahl von chemischen Anhängseln modifiziert. Vor allem die DNA-Methylierung nimmt eine zentrale Stellung bei der Genregulation ein: So entscheiden kleine, an die DNA-Basen geheftete Kohlenwasserstoffanhängsel darüber, ob ein Gen „aktiv“ oder „stillgelegt“ ist, also abgelesen werden kann oder nicht.
Störungen in der DNA-Methylierung äußern sich in einer veränderten Genaktivität in der Zelle, die zur Tumorentstehung beitragen kann. Darüber hinaus weichen die Methylierungsmuster von Tumorzellen deutlich von denen gesunder Gewebezellen ab. „Genau hier setzen wir mit unserer Forschung den Hebel an“, sagt Thomas Lengauer vom Max-Planck-Institut für Informatik in Saarbrücken, der gemeinsam mit Christoph Bock die Arbeitsgruppe Computational Epigenetics in der Abteilung Bioinformatik und Angewandte Algorithmik von Herrn Lengauer leitet.
Wie bei einer Rasterfahndung durchforsten die Wissenschaftler mithilfe selbst entwickelter Software-Programme umfangreiche Gendaten nach verdächtigen Methylierungsmustern. „Viele dieser Muster treten nur bei ganz bestimmten Krebstypen auf, so dass wir sie in der klinischen Diagnostik als Biomarker, also Indikatoren für die jeweilige Art der Erkrankung einsetzen können“, sagt Thomas Lengauer. Dabei sind sie auf eine enge Zusammenarbeit mit Kliniken und Biotechnologielaboren angewiesen. Die Gewebeproben von Krebspatienten werden im Labor aufbereitet und das darin enthaltene Erbgut in viele kleine Schnipsel zerstückelt. Die Lösung wird dann mit sogenannten Microarrays (DNA Chips) oder mittels neuartiger Sequenzierverfahren verarbeitet. „Am Ende erhält man eine Art Karte des Epigenoms, also sämtlicher biochemischer Markierungen jenseits der eigentlichen DNA-Sequenz“, erklärt Thomas Lengauer.
Die nachfolgende mathematische Analyse der Saarbrücker erfolgt ausschließlich im Computer. Ausgeklügelte Algorithmen und statistische Verfahren suchen im Nebel der Epigenomdaten nach Mustern, die nur bei bestimmten Krebsformen auftreten und bei gesunden Patienten fehlen – eine Aufgabe, die viel Feingefühl bei der Programmierung erfordert. Denn anders als das Genom, das in allen Körperzellen nahezu identisch ist, erweist sich der chemische Mantel der DNA als wahres Chamäleon. „Im menschlichen Körper gibt es etwa 200 verschiedene Gewebetypen mit jeweils unterschiedlichen Epigenomen, die sich noch dazu mit zunehmendem Lebensalter oder bei Krankheiten verändern“, sagt Thomas Lengauer, „alle diese Variationen müssen wir in unseren Programmen berücksichtigen, damit nur noch die für Krebs relevanten Unterschiede ins Gewicht fallen.“
Und der Aufwand lohnt sich. So entwickelten die Saarbrücker in Zusammenarbeit mit dem Universitätsklinikum Bonn einen epigenetischen Biomarker für maligne Glioblastome, die häufigste Form bösartiger Hirntumore. „Nur bei rund einem Viertel der betroffenen Patienten schlägt die Chemotherapie überhaupt an“, erklärt Christoph Bock, der seit 2012 auch eine Arbeitsgruppe am Forschungszentrum für Molekulare Medizin in Wien leitet. „Genau bei diesen Patienten ist ein bestimmtes Gen namens MGMT methyliert, also stillgelegt, das im aktiven Zustand in den Krebszellen einen Reparaturmechanismus steuert. Bei Patienten mit aktivem MGMT würden die bei der Chemotherapie entstehenden DNA-Schäden, die kranke Zellen absterben lassen, also rückgängig gemacht, so dass die Behandlung erfolglos bleibt.“ Mithilfe des neuen Biomarkers kann die Klinik nun schon vor der eigentlichen Behandlung diejenigen Personen identifizieren, bei denen die kräftezehrende Chemotherapie überhaupt sinnvoll ist. Die zur Identifizierung dieses Biomarkers durchgeführte zeitraubende manuelle Prozedur haben die Forscher dann systematisiert und in Software gegossen. Mit dieser Software ist nun eine wesentlich schnellere Identifizierung weiterer neuartiger Biomarker für Krebs möglich.
Und auch der jüngste Erfolg der Forscher eröffnet völlig neue Wege in der klinischen Krebsdiagnostik. In einem internationalen Großprojekt unter Leitung von Manel Esteller vom Bellvitge Biomedical Research Institute im spanischen Barcelona wurden über 1600 menschliche Gewebeproben analysiert. An etwa 1500 charakteristischen Stellen jedes untersuchten Genoms wurden die Methylierungsmuster abgefragt und schließlich in die Rechner des Saarbrücker MPIs gefüttert. Die Ergebnisse der Analyse sind vielversprechend. Noch bedeutender ist aber die Tatsache, dass die Forscher anhand der Methylierungsmuster auch solche Tumore nach ihrem Krebstyp einstufen konnten, die zur Gruppe der „Cancers of unknown primary origin“, den sogenannten CUPs gehören.
„Man stelle sich vor, dass ein Patient zum Arzt kommt und über Schmerzen in der Leber klagt“, sagt Christoph Bock, „der Arzt stellt daraufhin fest, dass sich in der Leber bereits zahlreiche Metastasen gebildet haben, die von einem noch unbekannten Primärtumor stammen.“ Werden solche bösartigen Krebszellen unbekannten Ursprungs im Körper gefunden, startet in der Regel die fieberhafte Suche nach dem Primärtumor, die in etwa 25 Prozent der Fälle erfolglos bleibt. Weil Krebszellen außerhalb ihres Ursprungsgewebes häufig entarten, lässt sich ohne den Primärtumor kaum feststellen, um welchen Krebstypen es sich handelt, was die Heilungschancen der Patienten stark vermindert. „Durch die Epigenomanalyse konnten wir 70 Prozent der CUPs in unseren Proben eindeutig einem Krebstyp zuordnen“, sagt Christoph Bock, „entsprechende Analyse-Tools wie wir sie auch für Glioblastome entwickelt haben, können daher die Prognose dieser Patienten verbessern, weil die Klinik ganz spezifisch die am besten geeignete Therapie auswählen kann.“
Inzwischen wurde das Potenzial der Epigenom-Kartierung auch auf internationaler Ebene erkannt. Unter dem Dach des International Epigenome Consortium (IHEC) werden verschiedene Großprojekte koordiniert. Das Ziel ist es, Epigenome von mindestens 1000 in Biologie und Medizin bedeutsamen Zelltypen und Zellzuständen komplett zu kartieren. Die einzelnen Projekte innerhalb von IHEC setzen dabei verschiedene Schwerpunkte. Während zum Beispiel die US-amerikanischen Institute Referenz-Profile für möglichst viele gesunde Zelltypen des menschlichen Körpers anstreben, hat das EU-geförderte BLUEPRINT-Projekt die Zellen des Blut- und Immunsystems samt seiner Erkrankungen im Fokus. „Der Ansatz von BLUEPRINT ist äußerst anwendungsorientiert, weil viele klinische Diagnoseverfahren auf der Analyse von Blutproben basieren“, sagt Christoph Bock. Neben etwa 60 gesunden Zelltypen im Blut sollen auch mehr als 60 Formen der Leukämie kartiert werden. Nicht nur das MPI in Saarbrücken ist an IHEC beteiligt, auch das MPI für Immunbiologie und Epigenetik in Freiburg und das MPI für molekulare Genetik in Berlin sind eingebunden.
„Dank der Bioinformatik wird sich unser Wissen im Bereich der Epigenetik in den kommenden zehn Jahren vervielfachen“, sagt Thomas Lengauer. Und der Professor aus Saarbrücken geht noch weiter: „Die Epigenetik wird künftig das Rückgrat bei der Aufklärung darüber sein, wie Zellen sich selbst steuern – eines zentralen Problems der Biologie. Viele noch völlig unbekannte Vorgänge im Zellkern, vor allem die Regulation der Genaktivität, wird man mithilfe bioinformatischer Methoden aufdecken können.“
Ganz vorne auf der langen To-Do-Liste steht dabei schon jetzt das Datenmanagement. „Die Datenwelle, die momentan auf uns zurollt, kommt einer Revolution gleich“, sagt Thomas Lengauer, „hier in Saarbrücken platzen die Server bald aus allen Nähten, so dass wir gerade darüber nachdenken, unsere Daten zumindest teilweise in die Cloud zu verlagern.“ Klar ist, die gewonnenen Epigenom-Kartierungen müssen im Netz gespeichert, leicht verfügbar sowie mit geeigneten Tools und Suchmaschinen nutzbar gemacht werden. „Die derzeit ernsthaft diskutierte Alternative wäre, dass Labore und Kliniken eingelagerte Proben jedes Mal neu sequenzieren müssen, wenn sie diese brauchen, nur weil kein Platz für die Datenspeicherung vorhanden ist“, sagt Lengauer, „eine zumindest für Informatiker eher fernliegende Lösung.“
Der Forscher sieht in der Epigenom-Analyse zwar einen entscheidenden Faktor für rasante Fortschritte der Krebsdiagnostik in der nahen Zukunft, dämpft allerdings die Erwartungen bei der Entwicklung neuer Medikamente: „Viele Wissenschaftler reden heute viel über Medikamente, die gezielt Störungen im Epigenom kranker Zellen reparieren können. Ich neige da zur Vorsicht. Solche gezielten Eingriffe bergen große Gefahren, allein schon weil die hochkomplexen Genregulationsmechanismen, die hier manipuliert werden, noch kaum bekannt sind.“