Gesundheit in Indien - Heilen mit Amulett und Antibiotikum

In Indien existieren traditionelle und moderne Heilmethoden parallel zueinander. Beide Ansätze sollen sich sinnvoll ergänzen

Eigentlich gehören Gabriele Alex und Vibha Joshi Parkin zu verschiedenen Abteilungen am Göttinger Max-Planck-Institut zur Erforschung multireligiöser und multiethnischer Gesellschaften. Doch die beiden Wissenschaftlerinnen befassen sich mit den vielfältigen Heilmethoden und Traditionen in der indischen Gesellschaft. Aus unterschiedlicher Perspektive zeigen sie, dass vermeintliche Gegensätze in der Praxis doch nicht so unvereinbar sind.

Text: Birgit Fenzel

Ein Kranker in Indien hat im Fall der Qual die Wahl zwischen westlich geprägter Biomedizin und einer Reihe einheimischer Heilmethoden. So kann er sein Leiden mit ayurvedischen Ölungen, Nasenduschen oder Einläufen kurieren, sein Glück mit Globuli aus der klassischen Homöopathie oder Kräutersalben aus der Naturheilkunde versuchen. Vielleicht möchte er aber auch mithilfe einer von einem Siddha-Arzt bestimmten Therapie die aus der Balance geratenen Energien seines Körpers durch Erbrechen, Abführen oder warme Wickel wieder harmonisieren.

Der Patient kann zudem einen Spezialisten für Unani aufsuchen, der in Anlehnung an die griechische Säftelehre das aus dem Gleichgewicht geratene richtige Verhältnis von Blut, Schleim, schwarzer und gelber Galle wieder herbeiführt. Für besonders böse Fälle bieten Spezialisten ihre Dienste an, die eher ins Metaphysische reichen.

Ob bei einem Beinbruch eher der Chirurg konsultiert wird oder doch der Bannzauber eines Geistheilers gefragt ist, hängt nach Beobachtung der Ethnologin Gabriele Alex stark davon ab, welche Ursache für die Erkrankung angenommen wird, wie weit die jeweiligen Gesundheitsangebote vom Wohnort entfernt sind, und vor allem vom sozioökonomischen Status. „Im Grunde ist es nicht anders als bei uns, wo man versucht, bestimmte Unpässlichkeiten mit Hausmitteln zu kurieren, und erst bei ernsthafteren Erkrankungen zum Arzt geht.“

Wie freizügig viele Inder bei der Behandlung von Krankheiten Elemente aus verschiedenen Religionen mit moderner und traditioneller Medizin kombinieren, hat die Anthropologin Vibha Joshi Parkin bei den Angami im Nordosten Indiens beobachtet, die bei der Behandlung von Krankheiten je nach Gebrauch christliche, animistische oder andere religiöse Elemente mischen. Anders als Gabriele Alex, die sich als Mitarbeiterin der Gruppe um Steven Vertovec vor allem mit Fragen soziokultureller Vielfalt beschäftigt, gehört Joshi Parkin zur Abteilung von Peter van de Veer, die sich für Aspekte religiöser Pluralität interessiert.

Ursachenforschung in Traum und Trance

In ihrem unlängst fertiggestellten Buch Christianity and healing: the Angami Naga of northeast India beschreibt Parkin das Verhältnis von christlichem Glauben und Heilung bei den Angami Naga in Nagaland, von denen mehr als 85 Prozent zu den Baptisten, Katholiken oder einer anderen christlichen Glaubensgemeinschaft konvertiert sind. „Und dies teilweise schon vor drei Generationen“, sagt die Max-Planck-Forscherin.

Obwohl es sich in dieser Region als Religion durchgesetzt hat und längst etabliert ist, hat das Christentum die ursprüngliche spirituelle Welt der Angami nicht komplett ersetzt. Auch heute noch gibt es unter ihnen Medien und Schamanen, die angeblich mit den ursprünglichen animistischen Schutzgeistern in Kontakt treten können. Manche sagen die Zukunft voraus, andere erfahren in Traum oder Trance die Ursachen von Krankheiten oder wie diese zu heilen sind.

In ihrer Studie beschreibt Joshi Parkin anhand eines Fallbeispiels, wie selbstverständlich die Menschen die verschiedenen Heilangebote aus Bio- oder Volksmedizin sowie Christentum und traditioneller spiritueller Welt mischen. Es handelt sich um die Krankengeschichte einer jungen Frau aus einer Baptistenfamilie, deren Leiden Priester durch Besessenheit erklärten. Nach einer fiebrigen Erkrankung und ersten Asthmaanfällen waren bei der Patientin plötzlich aggressive Verhaltensänderungen aufgetreten, die sich gegen alles und jeden richteten.

Bei einem Besuch erfuhr die Forscherin von den vielfältigen Bemühungen, die richtige Diagnose und Therapie zu finden. Zunächst hatte sich die Familie an lokale Heiler gewandt, gleichzeitig auch den Leiter eines nahen Gebetszentrums hinzugezogen, der auch als Volksmediziner praktizierte. Von ihm stammte die Diagnose, dass ein böser Geist hinter den Ausfallerscheinungen stecke. Zusätzlich suchte die Familie Rat in der Biomedizin und brachte das Mädchen zu Bluttests ins örtliche Krankenhaus. Doch fanden die Ärzte dort keine Erklärung für den Zustand der Patientin. Immerhin konnte ein Doktor aus Assam das Asthma der jungen Frau behandeln.

Danach suchte die Familie christlichen Beistand und fand einen Pastor, der versuchte, den bösen Geist mit Gebeten auszutreiben. Da die Wutanfälle blieben, schlossen andere zu Rate gezogene Priester, dass es ein besonders großer böser Geist sein müsse, der sich schon so lange eingenistet habe, dass die Trennung extrem schwer sei. Von einem weiteren Prediger hörte die Familie eine zweite Diagnose: Er führte die Wutanfälle des Mädchens darauf zurück, dass der Urgroßvater der Patientin eine Sünde begangen habe.

Eine dritte Theorie schließlich erklärte den Zustand damit, dass sich das Mädchen in seiner Kindheit geweigert habe, eine göttliche Gabe anzunehmen. Nach Vorstellung der Angami werden Schamanen und Geistheiler durch Träume und Visionen berufen, ihre Kräfte den Menschen in Diensten zu stellen. Bei Weigerungen, diesem Ruf zu folgen, droht Schaden für Leib und Geist.

Bibelzitate sollen bei der Behandlung helfen

Bei dem Besuch der Forscherin war das Mädchen allen Therapieanstrengungen zum Trotz immer noch nicht geheilt. Doch ging es der Anthropologin nicht um Erfolg oder Misserfolg verschiedener Behandlungswege. Vielmehr sieht sie in dieser Krankengeschichte ein Muster für die undogmatische Flexibilität, mit der sich die Angami in einem vielfältigen Angebot von Medizin- und Behandlungstraditionen säkularer und spiritueller Natur orientieren. So ist es keine Ausnahme, dass bei Gesundheitsproblemen auch Priester konsultiert werden. Diese enge Verknüpfung von christlichem Glauben mit Heilung sieht Joshi Parkin in Zusammenhang mit der Geschichte der Mission in Nagaland.

Die ersten christlichen Missionare, die Ende des 19. Jahrhunderts in die Region gekommen waren, hätten über Schulbildung und medizinische Hilfsangebote versucht, ihre Botschaft in die Gesellschaft der Angami zu tragen. Damals war es üblich, die Behandlung mit Bibelzitaten zu verknüpfen, um damit die fürsorgliche Seite des christlichen Gottes den Menschen näher zu bringen“, sagt Joshi Parkin. Und dies sei immer noch präsent, wie sie bei ihren Feldforschungen in Nagaland festgestellt hat: „Ich habe in einigen Primary Health Clinics über dem Eingang oder in den Behandlungszimmern Bibelverse hängen gesehen.“

Außerdem pflegten auch heute noch die christlichen Kirchen in der Region die Kultur des Betens und Heilens, wobei auch der Glaube an Wunderheilung verbreitet sei. Als Beispiel für jene christlichen Einrichtungen, die in ihrer Behandlungsmethodik auf den Spuren des Herrn wandeln, nennt sie die Revival Church von Nagaland, zu deren Spezialitäten die Heilung durch Handauflegen gehört und die dazu ganze Heilcamps unterhält.

Das Heilungsangebot der anderen Kirchen konzentriere sich mehr auf die Kraft der Gebete. „Im Wesentlichen handelt es sich dabei um Gruppen von Frauen sowie um als besonders befähigt angesehene Personen, die spezielle Gebete für den Kranken sprechen“, erklärt Parkin. Auch die Verknüpfung von Christentum und Medizin besteht nach ihren Beobachtungen weiter. „Jetzt ist es die Rolle der Kirche, die verschiedenen Konfliktparteien der Naga-Nationalisten zu versöhnen und damit die Gemeinschaft der Naga zu heilen.“

Auf Abbildungen mit christlichen Motiven ist auch Joshi Parkins Kollegin, die Ethnologin Gabriele Alex, bei ihren Recherchen in den volksmedizinisch orientierten Heilershops der Vagri in Tamil Nadu gestoßen. Die Vagri gehören zu jenen drei Bevölkerungsgruppen, die sich Alex exemplarisch für ihre Studie über die Heilsysteme und Heiltraditionen in Tamil Nadu ausgesucht hatte. „Vor allem interessierte mich dabei, wie Kasten mit niedrigem gesellschaftlichem Status das medizinische Angebot wahrnehmen und welche Wege sie bei der Behandlung von Krankheiten nutzen“, erklärt die Forscherin ihr Vorhaben.

Tatsächlich haben die Bewohner des südlichsten indischen Bundesstaats die Auswahl zwischen diversen Gesundheitssystemen. Zum einen gibt es die traditionelle Volksmedizin – mit einem äußerst vielfältigen und differenzierten Arsenal von Mitteln und Rezepten gegen Krankheiten aller Art. „Sie umfasst sowohl die Hausmittel der Großmutter mit heilsamen Kräutertees, Gewürzmischungen oder Suppen als auch professionelle Heiler, die eigene Praxen oder sogar Kliniken betreiben und Knochenbrüche, Tierbisse oder Hauterkrankungen behandeln“, zählt Gabriele Alex einige der Spezialitäten aus der Tradition der nattu maruntu auf.

Gemeinsam sei all diesen Verfahren, dass sie sich auf ein von Generation zu Generation innerhalb der Familie weitergegebenes Wissen über medizinische Rezepturen und Heilpflanzen beziehen, die aus der umgebenden Natur stammen. Dabei besitzt die Tradition durchaus auch ideologischen Charakter: „Diese Art von Medizin wird stark mit einer romantischen Vergangenheit Indiens und einem Bild von Natur und Natürlichkeit assoziiert, welches der Moderne entgegengesetzt wird“, sagt Alex. Zum anderen steht mittlerweile auch der Bevölkerung in den ländlichen Regionen ein biomedizinisches Grundangebot zur Verfügung. So hat sich wie überall in Indien auch in Tamil Nadu das Angebot an öffentlichen Gesundheitseinrichtungen vor allem durch die flächendeckende Einführung von Basisgesundheitseinrichtungen sichtbar verbessert.

Gesundheit ist mit Fortschritt verknüpft

„Daneben hat die indische Regierung zusätzlich die traditionellen medizinischen Traditionen und Wissenssysteme in die staatliche Gesundheitspolitik integriert“, sagt die Ethnologin. So wurden Ayurveda, Yoga, Unani, Siddha, Homöopathie und Naturheilkunde standardisiert und der staatlichen Ausbildung, Forschung und Gesundheitsversorgung einverleibt. Gabriele Alex: „Auch gibt es mehr private Ärzte als noch vor 20 Jahren. Als ich 1998 in Madukottai meine erste Forschung begann, war dort nur ein Mediziner ansässig – und dieser war kein echter Arzt, sondern ein sogenannter quack doctor, der bei einem biomedizinischen Arzt viele Jahre als Gehilfe gearbeitet und sich dann nach einigen Jahren selbstständig gemacht hatte.“

Elf Jahre später zählte sie in dem Dorf drei private Ärzte, ein staatliches Gesundheitszentrum, in dem an Wochentagen in den Morgenstunden ein Arzt, eine Krankenschwester und eine Laborantin zur Verfügung standen, und ein Primary Health Subcentre mit einer Apotheke, einem Entbindungs- und einem Untersuchungsraum.

Diese Verbesserung des biomedizinischen Angebots auch in den ländlichen Regionen sei das Resultat der entwicklungspolitischen Programme der indischen Regierung. „Gesundheit gilt in diesem Diskurs als ein wichtiges Thema und wird direkt mit wirtschaftlichem Wachstum und Fortschritt verknüpft“, so die Forscherin. Im Rahmen ihrer Studie stellte sie die Frage, ob durch den verbesserten Zugang zu öffentlichen biomedizinischen Gesundheitseinrichtungen die anderen traditionellen Heilsysteme tatsächlich abgelöst werden. Dafür spräche, dass das staatliche Angebot mit keinen oder nur geringen Kosten verbunden sei.

„Doch gibt es trotz des staatlichen Interesses an Themen der Gesundheitsversorgung dazu kaum Studien“, sagt Alex. „Stattdessen wird weiterhin angenommen, dass ein entsprechend gutes Angebot auch zur Frequentierung desselben führt.“ Für ihre Studie wählte sie neben den Vagri die Mutturaja und die Paraiyar als Repräsentanten der traditionell unteren Kasten, wobei die Mutturaja und die Paraiyar von der Landwirtschaft leben. Hingegen sind die Vagri, die nicht als Wanderheiler oder Betreiber von Heiler-shops praktizieren, wie ihre Vorväter als fliegende Händler unterwegs und verkaufen am Straßenrand Schönheitsartikel. Andere leben von der Jagd und dem Aufstellen von Kleintierfallen.

„Vagri-Heiler sind bekannt für ihre spezielle Volksmedizin und für Wundermittel gegen das Alter sowie gegen Impotenz und Unfruchtbarkeit“, so Alex. Ihr medizinisches Repertoire umfasst Öle für die äußerliche Anwendung sowie Pulver und Pasten, wobei die verwendeten Heilpflanzen zumeist volksmedizinische Standardmedikamente sind. Bei ihren Besuchen in den Heilershops hat sie außerdem gesehen, wie diese volksmedizinischen Praktiker sehr spezielle Ingredienzien in Tiegel und Töpfe rührten und rieben. „Sie verwenden aber auch tierischen Fette, Schlangen und Fleisch als medizinische Mittel, was sie von den anderen volksmedizinischen Heilern unterscheidet.“

Zu den weiteren Spezialitäten der Vagri gehören Wahrsagerei und Schutzmedizin, wobei manchmal ungewöhnliche Dinge zum Einsatz kommen. „Zum Beispiel verkaufen sie Amulette, die das Fuchshorn enthalten“, beschreibt die Wissenschaftlerin eine weitere Spezialität der Heilkunst. „Dieses kleine Horn soll angeblich vom Schädel des Fuchses stammen und verleiht seinem Träger die Potenz und Kraft des Tieres.“

Auch bei den hinduistischen Paraiyar in Madukottai sind die cami für rituelle Heilung zuständig. Alex: „Dabei bevorzugen die Angehörigen dieser Kaste vor allem die Gottheiten, denen Tiere geopfert werden und die eine gewisse Wildheit und Gefährlichkeit besitzen wie Kaliamman und Karuppa oder auch Muni, die sowohl Gottheit als auch Geist ist.“ Diese Wesen seien sowohl für die Verursachung von Krankheiten zuständig als auch für ihre Heilung. Und so komme den rituellen Spezialisten der Paraiyar auch eine Heilerrolle zu.

Bei Geburten werden Krankenhäuser bevorzugt

Wie also orientieren sich diese Menschen im Krankheitsfall in dem vielfältigen Angebot, das zwischen volksmedizinischen Traditionen und biomedizinischen Einrichtungen etliche Behandlungsmöglichkeiten bietet? Das gehörte für Gabriele Alex zu den Kernfragen ihrer Studie. Um sie zu beantworten, ging sie mit in der Ethnologie etablierten qualitativen und quantitativen Methoden ins Feld. So nahm sie in vielen Einzelgesprächen die Krankheitsbiografien ihrer Interviewpartner auf, um sowohl Muster als auch Veränderungen im Gesundheitsverhalten aufzuzeigen.

Zudem setzte die Wissenschaftlerin standardisierte Fragebögen ein, welche die Häufigkeit und die Arten von Erkrankungen sowie deren angenommene Ursachen und die Auswahl der Heiler und Ärzte dokumentierten und mit Faktoren wie Alter, Geschlecht, Bildungsstand, Kaste und Wohnort in Beziehung setzten.

Diese Methodik lieferte aufschlussreiche Daten darüber, welche medizinischen Möglichkeiten den Angehörigen dieser Kasten tatsächlich zur Verfügung stehen und wie sie diese wahrnehmen und nutzen. Nach Auswertung der Datensammlung kennt Alex die Hauptkrankheitsursachen in dieser Region. „Am häufigsten wurden Fieber, Erkältungen und grippale Infekte sowie Erkrankungen des Verdauungstraktes angegeben“, fasst sie ihr Ergebnis zusammen. Moderne Zivilisationskrankheiten spielten dagegen so gut wie keine Rolle.

Auch konnte die Forscherin erstmals dokumentieren, dass sich zumindest Teile der Bevölkerung anders verhalten, als Gesundheitspolitiker annehmen. „Die öffentlichen Gesundheitseinrichtungen werden nur in begrenztem Maße frequentiert“, stellt sie fest. „Nur bei Geburten werden die staatlichen Krankenhäuser bevorzugt, weil dort nicht unnötigerweise ein Kaiserschnitt gemacht wird, sondern die Kinder auf langsame Weise zur Welt gebracht werden.“

Hingegen gaben die meisten Teilnehmer der Befragung an, bei Fieber lieber die privaten Krankenhäuser aufzusuchen. „Weil dort die Antibiotika sofort verschrieben werden und die Pharmazeutika als effektiver gelten“, erklärt die Forscherin. Auch fand sie heraus, dass bei der Suche nach Heilung die verschiedenen Behandlungswege kombiniert oder nacheinander Methoden der Biomedizin mit Hausmitteln oder traditioneller Heilkunst probiert werden.

Mangelernährung als größtes Problem

Eine wichtige Rolle bei der Auswahl der Therapierichtung spielt auch die Frage, wo die Patienten die Wurzeln ihres Leidens vermuten. „Die Menschen dort verfügen über ein sehr differenziertes Konzept zu Ursachen von Krankheiten“, so Alex, „sie unterscheiden zwischen natürlichen und übernatürlichen Ursachen.“ Für Erstere seien die biomedizinischen Ärzte zuständig, für die anderen die spirituellen Spezialisten.

Wie die Wissenschaftlerin außerdem feststellte, unterscheiden sich die Kasten hinsichtlich ihrer Vorlieben für bestimmte Gesundheitseinrichtungen. Danach bevorzugen Paraiyar und Mutturaja eindeutig die staatlichen Ärzte und Kliniken oder gehen in Apotheken und medical shops, was Gabriele Alex im sozio-ökonomischen Status dieser Menschen begründet sieht. „Hier geht es um Leute, die Tagelöhner sind, und die sich Krankenhausbesuche nicht unbedingt leisten können, denn das bedeutet einen Tag Arbeitsausfall“, sagt sie. „Dagegen kostet die Medikamentenempfehlung in der Apotheke normalerweise nichts und Spritzen gibt es schon für fünf bis zehn Rupien.“

Bei der Auswertung ihrer Fragebögen stieß Alex zudem auf ein interessantes Paradoxon: Ausgerechnet die Vagri, die sich bei ihrer Befragung am positivsten über die öffentlichen Gesundheitseinrichtungen geäußert hatten, nutzen diese am wenigsten von den drei Gruppen: „Den privaten Krankenhäusern wird eine bessere und effektivere Behandlung zugesprochen. Das hängt auch mit der Diskriminierung zusammen, die Angehörige statustiefer Gruppen in den Krankenhäusern erfahren.“

Besonders interessant findet die Forscherin, dass auf die Frage nach Verbesserungsvorschlägen für das Gesundheitssystem die meisten ihrer Studienteilnehmer die Optimierung der Ernährungssituation als wichtigste Maßnahme nannten und dabei vor allem eine bessere Versorgung mit Proteinen wünschten. „Da zielen die ganzen staatlichen Programme auf den Ausbau des Gesundheitswesens – und die Menschen auf dem Land sehen in der Mangelernährung ihr größtes Gesundheitsproblem.“

 

GLOSSAR

Siddha
Scholastische Medizintradition, in Südindien entwickelt. Die wichtigsten Einflüsse des Siddha stammen aus der Philosophie des Yoga, von Theorien und Praktiken des Tantrismus sowie von Konzepten der Alchemie und des Ayurveda.

Unani
Scholastische Medizintradition, in Griechenland entstanden und im arabischen Raum weiterentwickelt. In die heutige Form flossen die traditionellen Heilkünste Ägyptens, Syriens, des Irak, Persiens, Indiens, Chinas und der Staaten des Mittleren Ostens ein. Unani gelangte vermutlich im 12. Jahrhundert nach Indien.

Nattu Maruntu
Sammelbegriff, der unzählige Praktiken des Heilens und der Volksmedizin zusammenfasst; bezeichnet medizinische Heiltraditionen Indiens, die auf Medikamenten pflanzlichen und tierischen Ursprungs beruhen und nicht den scholastischen Traditionen (Siddha, Ayurveda) zugerechnet werden können. » Am häufigsten werden Fieber, Erkältungen und grippale Infekte sowie Erkrankungen des Verdauungstraktes angegeben. Moderne Zivilisationskrankheiten spielen dagegen so gut wie keine Rolle.  

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