Wettkampf mit Wind und Wolken
Die Elemente, für die er sich beruflich interessiert, beschäftigen ihn auch in seiner Freizeit: Während Thorsten Mauritsen am Hamburger Max-Planck-Institut für Meteorologie mit Klimamodellen arbeitet, erfährt er als Hobbypilot das Zusammenspiel von Wind, Wolken und Turbulenzen hautnah im Cockpit seines Segelflugzeugs.
Text: Uta Deffke
Himmel und Eis, so weit das Auge reicht. Ab und zu schaut ein Eisbär vorbei, oder zwei. 87,5 Grad nördliche Breite. „Es kann sehr grau sein dort, kalt und nass. Die Leute sagen: Entweder man hasst es oder man liebt es. Ich finde es wunderschön.“ Als Thorsten Mauritsen an Bord eines Helikopters dem Eisbrecher voranflog, der ihn und seine Forscherkollegen ins arktische Eismeer brachte, waren sie schon nach zwei Minuten völlig allein in der unwirtlichen Weite. „Da wird einem bewusst, wie klein man ist. Und wie erstaunlich es ist, dass hier überhaupt Leben existieren kann. Wirklich eine großartige Erfahrung.“
Die Arktis ist immer noch ein Abenteuer, auch ein wissenschaftliches. Der Klimawandel treibt die Temperaturen hier doppelt so schnell in die Höhe wie im Schnitt auf dem Rest der Erde. Warum das so ist, gibt den Forschern noch viele Rätsel auf. Einem davon näherte sich die Expedition des schwedischen Eisbrechers Oden im Sommer 2008. Sie sollte dazu beitragen, die Wolken der Arktis besser zu verstehen: wie sie sich bilden, wie sie existieren und wieder vergehen. Und welchen Einfluss das auf die klimatischen Prozesse an der Erdoberfläche hat.
Ein Jahr lang hatte sich Thorsten Mauritsen auf die sechswöchige Expedition vorbereitet, hatte Experimente entwickelt, Geräte bestellt, aufgebaut, Messroutinen programmiert. Am 1. August 2008 brach er mit 30 anderen Wissenschaftlern aus aller Welt in Spitzbergen auf. Zwei Wochen brauchte das Team, bis es im arktischen Eismeer eine geeignete Scholle für seine Experimente gefunden hatte. Die meisten waren nicht dick genug in jenem Sommer.
Dann musste das Schiff wieder umkehren, um sicherzustellen, dass auch der Rückweg zu schaffen war. Schließlich blieben noch drei Wochen Zeit für die Experimente. Ausladen, aufbauen, in Betrieb nehmen – alles musste auf den Punkt funktionieren. „Es war ein voller Erfolg“, resümiert Mauritsen. „Und es hat alles nur deshalb so gut geklappt, weil es so akribisch vorbereitet war.“
Damals hatte der Meteorologe schon mehrere Jahre über das Klima der Arktis geforscht, hatte Theorien aufgestellt, neue Modelle entwickelt und alte in Frage gestellt. Dass er jetzt vor Ort selber Daten sammeln konnte – Temperatur, Luftfeuchtigkeit, Druck, Partikeldichte, Wind – empfand er als ungeheure Bereicherung: „Mir wurde da erst so richtig bewusst, was es bedeutet, die ganzen Daten zu messen, vor allem in guter Qualität. Und ich bekam ein ganz neues Bild von der Arktis, ein Gefühl für das, was ich sonst nur als Zahlen vor mir hatte.“
Die Partikeldichte zum Beispiel. In der arktischen Luft ist sie extrem niedrig. Manchmal so niedrig, dass sich beim Ausatmen keine Dampfwolke bildet. Der Atem findet schlichtweg keine Keimzellen, um zu Tröpfchen zu kondensieren. Ein Effekt, der auch Auswirkungen auf die Wolkenbildung hat.
Die Arktis erwärmt sich um das Doppelte
Mittlerweile hat Thorsten Mauritsen seinen Arbeitsplatz wieder am Computer – im Max-Planck-Institut für Meteorologie in Hamburg. Immerhin, die Architekten haben dafür gesorgt, dass die Forscher auch hier ganz dicht dran sind am Wetter: Das großzügige Treppenhaus, um das die Büros angelegt sind, bietet durch sein gläsernes Dach freien Blick auf Wolken, Sonne, Regen. Während draußen ein Sturm tobt und die Wolken über den Hamburger Herbsthimmel jagt, sitzt Thorsten Mauritsen im Besprechungsraum – die Ruhe selbst. Mimik und Gestik sind sparsam, wenn er erzählt, die Worte mit Bedacht gewählt. Die großen Augen blicken freundlich und neugierig, umrahmt vom kurz geschorenen dunkelblonden Haarkranz – eine windschnittige Frisur. Praktisch vielleicht für den Gegenwind, den seine Arbeit bisweilen provoziert.
Der 33-jährige Däne erforscht den arktischen Verstärkungseffekt. Im 20. Jahrhundert hat sich die Oberfläche der Arktis, verglichen mit dem durchschnittlichen Rest der Erde, um das Doppelte erwärmt – um 1,5 statt 0,7 bis 0,8 Grad. Die Auswirkungen dieses Effekts sind jetzt schon dramatisch: Das Seeeis schmilzt, ebenso Gletscher, und die Tundra taut auf. Das lässt den Meeresspiegel steigen und verändert die Lebensräume von Pflanzen, Tieren und Menschen.
Um das Verstärkungsphänomen zu verstehen, müssen die Forscher ergründen, welche Faktoren die Temperatur beeinflussen und auf welche Weise. Die einfallende und die reflektierte Sonnenstrahlung spielen dabei ebenso eine Rolle wie infrarote Wärmestrahlung von der Erdoberfläche und die Treibhausgase, die diese zurück auf die Erde reflektieren. Auch der seitliche Wärmeeintrag aus dem Ozean sowie über Eis und Boden muss berücksichtigt werden. Und schließlich sind da noch die Mechanismen des Wärmeaustauschs zwischen alldem, etwa durch turbulente Bewegungen der Atmosphäre. „Das ist ein sehr komplexes Zusammenspiel von Ozean, Seeeis, Erdboden und Atmosphäre“, betont Mauritsen.
Wolken sind dabei noch immer eine große Unbekannte – sowohl was ihren Effekt auf das Klima als auch was den Effekt des Klimawandels auf die Wolken angeht. Für den Wärmehaushalt der Erde spielen sie in zweierlei Hinsicht eine wichtige Rolle: Sie kühlen, weil sie einen Teil des einfallenden Sonnenlichts reflektieren. Und sie wärmen, denn sie streuen die infrarote Wärmestrahlung der Erdoberfläche teilweise nach unten zurück. Diese entgegengesetzte Wirkung macht es den Klimaforschern besonders schwer.
Damit sich Wolken überhaupt bilden, braucht es genug Wasserdampf und Aerosole. In der Arktis machten Thorsten Mauritsen und seine Kollegen an einem Tag mit besonders geringer Partikeldichte eine erstaunliche Entdeckung: „Wir beobachteten, dass die Partikeldichte immer geringer wurde, und irgendwann schien es, als ob tatsächlich auch die Wolken verschwanden. Gleichzeitig war aber die Temperatur um acht Grad abgesackt – das ist eine ganze Menge.“
Das läuft eigentlich dem sonst üblichen Verständnis zuwider: dass ein Kühlungseffekt dann auftritt, wenn man mehr und mehr Partikel in die Luft schleudert. Denn dann formen sich mehr, aber kleinere Tröpfchen, die Wolken werden heller und reflektieren mehr von dem einfallenden Sonnenlicht – auf der Erde wird es kälter.
Wissenschaft ist Wettstreit
Der Widerspruch faszinierte Thorsten Mauritsen: „Ich war zwar kein Experte auf diesem Gebiet, aber ich hatte das Gefühl, es könnte sich um eine interessante Sache handeln.“ Zurück in Stockholm, wo er eine Postdoc-Stelle an der Universität innehatte, setzte er sich an die Aufbereitung der Daten, vertiefte sich in die Grundlagen und suchte eine Erklärung für das ungewöhnliche Verhalten: Je weniger Partikel es gibt, desto größer werden die Tropfen. Irgendwann regnen sie aus, die Wolken enthalten fast gar kein Wasser mehr. Deshalb können sie kaum noch Infrarotstrahlung der Erde absorbieren, also auch nicht wärmen.
Zwar gelangt durch die dünnen Wolken mehr Sonnenlicht auf die Erde, aber das – so konnte Mauritsen zeigen – kann den Wärmeverlust nicht kompensieren. Die Arktis, das demonstrieren diese Untersuchungen einmal mehr, bedarf also einer besonderen Betrachtung. „Unser Paper ist bereits zur Diskussion veröffentlicht – und es gibt rege Debatten darüber“, sagt der Klimaforscher.
Thorsten Mauritsen liebt Kontroversen. Wissenschaft sei schließlich Wettstreit, meint er. Besonderes Vergnügen findet er daran, geltende Theorien zu widerlegen. „Damit verbringen wir Forscher eigentlich viel mehr Zeit als mit der Suche nach neuen Erklärungen“, meint Mauritsen. Eine Theorie könne im Grunde jeder aufstellen, sie zu prüfen, das sei die eigentliche Arbeit. „Das Charakteristische an der modernen Wissenschaft ist doch, dass man niemals die allgemeine Gültigkeit einer Theorie beweisen, sondern sie nur widerlegen kann.“
Dabei beruft sich Mauritsen auf den Philosophen Karl Popper, der genau das mit seiner Theorie vom Falsifikationismus vertreten hat. Demnach wird die Richtigkeit einer Theorie auch dadurch nicht wahrscheinlicher, dass sie auf besonders vielen passenden Beobachtungen beruht. Eine These, die unter Wissenschaftstheoretikern keinesfalls unumstritten ist.
Es ist nicht nur der wissenschaftliche Wettstreit über Wolken, Wind und Wärme, dem Thorsten Mauritsen verfallen ist. Auch in seiner Freizeit trägt er in diesem Metier Wettkämpfe aus: beim Segelfliegen. Aktuell ist er Dänischer Meister und bei der Weltmeisterschaft im Sommer in der Slowakei eroberte er einen achtbaren 15. Platz. „Es ist für mich eine große Herausforderung, gut zu fliegen und etwas zu erreichen“, sagt Mauritsen. Ein bisschen Abenteuerlust ist natürlich auch dabei: „Da oben ist man schließlich ganz und gar vom Wetter abhängig.“ Man braucht die Thermik als Antrieb, sucht den Auftrieb, kreist, gewinnt Höhe und Geschwindigkeit, segelt weiter zum nächsten Auftrieb und so fort.
„Das Fliegen erfordert die volle Konzentration. Man vergisst dabei alles andere – Studium, Frauen, Arbeit. Man sitzt da, fliegt und trifft seine Entscheidungen.“ Da sind Ruhe und Gelassenheit gefragt. Und Grundkenntnisse in Meteorologie. „Allerdings muss man oft so schnell entscheiden, dass für physikalische Überlegungen gar keine Zeit bleibt. Fliegen ist mehr eine Sache des Instinkts“, sagt Mauritsen. Instinkt, den er über lange Jahre in der Praxis erprobt hat. Stundenlang studierte er schon als Schüler Wetterkarten, um sich gleich am nächsten Tag in den Flieger zu setzen und sich im realen Wetter auszuprobieren.
Ein zweites Hobby ist die Fotografie geworden, eigentlich der Beruf seiner Frau. „Anfangs brauchte sie ein bisschen Unterstützung bei der Technik. Fotografie ist eine ziemlich technische Angelegenheit. Im Grunde geht es um Photonen, Optik, Computer und Software. Da konnte ich ihr gut helfen. Aber dann begann ich selber Fotos zu machen, und sie brachte mir die kreative Seite davon bei.“ Während seine Frau sich auf Menschen spezialisiert hat, widmet sich Thorsten Mauritsen lieber der Natur. Stundenlang kann er eine einzige Blume fotografieren – oder die Schönheit der Arktis einfangen.
Ein Eigenbrötler ist er dennoch nicht. „Segelfliegen bedeutet viel mehr, als in der Luft zu sein“, betont der Max-Planck-Forscher. „Man ist Mitglied in einem Verein, und das bedeutet, man unternimmt auch eine Menge anderes zusammen.“ Die ganze Technik muss gewartet werden, und manchmal geht man auch einfach nur campen, schwimmen oder grillen. Seit er denken kann, hat Thorsten Mauritsen seine Wochenenden auf dem Flugplatz verbracht.
"Segelfliegen ist eine soziale Sache"
Aufgewachsen ist er in der dänischen Stadt Sønderborg am Flensburg-Fjord. Sein Vater nahm die Familie regelmäßig mit auf den Flugplatz. Keine Frage, dass er schon mit 14 begann, den Flugschein zu machen. Mittlerweile nimmt der Pilot seine Familie mit auf den Platz – seine Frau und die beiden Kinder, den vierjährigen Sohn und die eineinhalbjährige Tochter. „Segelfliegen ist eine soziale Sache, und so ein Verein ist super, um schnell neue Leute kennenzulernen, wenn man in eine andere Stadt kommt“, findet er. In Stockholm hat das gut geklappt, und jetzt in Hamburg wieder. Jedes zweite Wochenende nimmt er sich Zeit fürs Fliegen. Und ein großer Teil der Ferien geht für die Wettkämpfe drauf.
Dass ein so begeisterter Segelflieger Meteorologe wird, verwundert kaum. Ursprünglich wollte er zwar Ingenieur werden, vielleicht Flugzeuge bauen. Doch dann überwog sein Interesse an den Phänomenen der Natur. „Von ihr werden wir schließlich immer abhängen“, meint Mauritsen. Und so schrieb er sich in Kopenhagen für Meteorologie ein, machte seinen Master in Stockholm und begann dort seine Doktorarbeit – in einem Projekt über die Arktis.
So richtig gepackt hat ihn die Klimaforschung nach einer kurzen, aber denkwürdigen Begegnung, die er im Umschlag seiner Dissertation verewigt hat: „Als ich gerade Doktorand geworden war, besuchte ich im Januar 2003 die Universität von Uppsala, um an einem Seminar von Larry Mahrt teilzunehmen. Im Anschluss daran wollte ich Professor Sergej Zilitinkevich treffen. Natürlich hatte Sergej den Termin vergessen. Also musste ich mehrere Stunden warten. Schließlich, nach nicht einmal 30 Minuten, verließ ich Sergejs Büro mit einem Zettel voll kryptischer Notizen. Das war der Beginn einer wundervollen Zusammenarbeit.“
Zurück in Stockholm brütete Mauritsen über dem Papier, schrieb auf, was er von Zilitinkevichs vielfältigen Ideen zu Turbulenzen verstanden hatte, und schickte es per E-Mail nach Uppsala. Der Professor war begeistert, lud zum nächsten Treffen noch ein paar Kollegen ein – und fortan bestimmten Turbulenzen das Forscherleben des Doktoranden. Den Zettel bewahrte Thorsten Mauritsen über die Jahre sorgsam auf und widmete ihm schließlich einen Ehrenplatz als Titelbild seiner Doktorarbeit.
Turbulenzen spielen nicht nur eine wichtige Rolle bei der Verwirbelung von Luftschichten und der Übertragung von Hitze zwischen Erdoberfläche und Atmosphäre. Sie gehören zu den großen, noch immer nicht vollständig verstandenen Phänomenen der Physik. Genau die richtige Herausforderung für einen ambitionierten jungen Forscher. Bei Turbulenzen handelt es sich um ein chaotisches System auf einer großen Breite von Längenskalen. Die Wirbel haben Durchmesser von einigen hundert Metern bis zu Millimetern und ihr Zusammenspiel ist äußerst komplex:
„Big whorls have little whorls / that feed to their velocity; / and little whorls have lesser whorls / and so on to viscosity.“ Mit diesem Vers aus dem Jahr 1920 von Lewis Fry Richardson, dem Pionier der numerischen Wettervorhersage, beschreibt Thorsten Mauritsen die fraktale Natur der Turbulenzen in seiner Doktorarbeit ganz poetisch.
Weil selbst die größten Wirbel zu klein sind, um sie im Raster gängiger Klimamodelle zu berücksichtigen, versuchen die Forscher zumindest ihre Effekte auf andere Weise einzurechnen. In seiner Doktorarbeit entwickelte Mauritsen ein neuartiges Modell dafür, das auch die speziellen atmosphärischen Gegebenheiten in der Arktis miteinbezieht. Dort liegen leichte, warme Luftschichten sehr stabil über den schweren, kalten in Erdnähe. Mauritsen beschreibt die Turbulenzen als Wellen: „Wenn sie klein sind und brechen, gibt es einen Austausch von Luft- und Wasserpartikeln, also auch von Wärme. Bei der sehr stabilen Schichtung der Arktis beschreiben wir Turbulenzen als Wellen, die nur sehr wenig zum Wärmeaustausch beitragen.“
Klimaforschung - komplex und kontrovers
Turbulenzen der etwas anderen Art sollte eine weitere Entdeckung auslösen, die Thorsten Mauritsen gemeinsam mit seinem Kollegen Rune Graversen am Ende seiner Doktorarbeit machte. Graversen betrachtete damals die Erwärmung der Arktis anhand sogenannter Reanalysedaten – durch Wettervorhersagemodelle aufbereitete Datensätze. Für den Zeitraum von 1979 bis 2001 fand Graversen heraus, dass die Temperatur der Arktis vor allem in Regionen von etwa zwei bis drei Kilometer Höhe stark anstieg – und gar nicht direkt an der Oberfläche. „Rune zeigte mir das, und ich habe dann einen Tag lang darüber nachgedacht. Schließlich ging ich ziemlich aufgeregt wieder zu ihm, weil es genau das Gegenteil von der Mainstream-Theorie bedeutete“, erinnert sich Mauritsen. Da war sie wieder, die Lust, geltenden Theorien zu widersprechen.
Die bisherigen Erklärungsmodelle gehen davon aus, dass gerade die rückläufige Eisbedeckung von Erdboden und Meer die Klimaerwärmung verstärkt. Denn die dunkler werdende Oberfläche absorbiert mehr Sonnenstrahlung, statt sie zu reflektieren. Die neuen Beobachtungen würden bedeuten, dass die Ursache für die stärkere Erwärmung der Arktis in dieser Periode möglicherweise kein, zumindest aber nicht ausschließlich ein Effekt der Oberfläche wäre.
Graversen und Mauritsen veröffentlichten ihre Erkenntnisse im Fachjournal Nature und provozierten prompt einigen Widerspruch. Es gab sogar Vorwürfe, die Stockholmer Forscher seien mit den Reanalysedaten „nicht vorsichtig genug“ umgegangen – ja, sie seien möglicherweise sogar fehlerhaft. Ein wenige Monate später ebenfalls bei Nature veröffentlichtes Paper präsentierte mit einem anderen Satz von Reanalysedaten aus den Jahren 1989 bis 2007 den scheinbaren Beweis für die Richtigkeit der alten These: stärkste Erwärmung am Boden.
Mauritsen und Graversen haben ihre Beobachtungen daraufhin noch einmal gründlich überprüft. „Wir sind ziemlich sicher, dass diese Differenzen nicht – jedenfalls nicht hauptsächlich – auf Fehlern in den von uns verwendeten Daten beruhen, sondern auf den unterschiedlichen Beobachtungszeiträumen. Gerade in den vergangenen Jahren hat sich das Eis der Arktis stark verändert, sodass diese Oberflächeneffekte jetzt möglicherweise eher durchschlagen.“ Dass es diese Effekte gibt, bezweifeln Mauritsen und Graversen auch gar nicht. „Die Frage ist nur: Welche Rolle spielen sie jeweils? Und das müssen wir erst noch herausfinden.“
Diese Diskussion zeigt einmal mehr, wie kontrovers und komplex die Klimaforschung ist, und dass die Qualität und Konsistenz der zur Verfügung stehenden Daten für die Wissenschaftler stets ein kritisches Thema ist. Deshalb war es für Thorsten Mauritsen auch eine so wertvolle Erfahrung, nach der Doktorarbeit auf Expedition zu gehen und selbst Experimente zu machen.
Am liebsten eine Arbeitsstelle auf dem Land
Nun gilt sein Interesse wieder hauptsächlich der Arbeit mit und an Modellen. Als seine Postdoc-Stelle in Stockholm auslief, war es endlich Zeit für einen Ortswechsel. In Norwegen gab es ein attraktives Stellenangebot, ebenso bei der NASA in Kalifornien, aber für Amerika konnte sich seine Frau nicht erwärmen. „Schließlich habe ich mich auch diesmal ganz von meinen wissenschaftlichen Interessen leiten lassen und bin sehr froh darüber“, sagt Mauritsen. Die führten ihn 2009 an das Max-Planck-Institut für Meteorologie nach Hamburg. „Am liebsten wäre mir zwar, es gäbe eine solche Arbeitsstelle irgendwo auf dem Land, aber das ist natürlich utopisch.“
In der Abteilung „Atmosphäre im Erdsystem“ von Bjorn Stevens kann er nun in aller Freiheit weiter über die arktische Verstärkung forschen, allerdings jetzt mit einem etwas globaleren Ansatz. Dazu nutzt er das Klimamodell, das am Hamburger Max-Planck-Institut entwickelt wurde. „Eines der besten Modelle weltweit“, wie Mauritsen findet. Es enthält sowohl eine Beschreibung der Atmosphäre als auch von Land und Ozean. Sein besonderes Interesse gilt schmelzenden Eisoberflächen, Wasserdampf und Wolken, die er im Modell gezielt deaktiviert, um ihren Einfluss zu untersuchen.
Darüber hinaus arbeitet Thorsten Mauritsen mit seinen Kollegen daran, das Hamburger Klimamodell für den nächsten IPCC-Bericht weiterzuentwickeln. Sie passen das Modell so an, dass es die aktuell bestmöglichen Ergebnisse zur Beschreibung der Atmosphäre liefert. Mit diesem Modell führen dann die Kollegen vom benachbarten Klimarechenzentrum die Simulationen durch, die Eingang in den neuen IPCC-Bericht finden.
Dass er sich mit seiner Forschung in politisch relevanten und bisweilen brisanten Dimensionen bewegt, spornt den jungen Max-Planck-Forscher durchaus an. Doch die eigentliche Motivation für seine Arbeit ist die wissenschaftliche Neugier. „Ich bin kein Idealist; ich fahre schließlich auch Auto und ich fliege zu meinen Wettkämpfen“, sagt er. „Es ist natürlich schön, wenn sich die Leute für das interessieren, was du machst. Aber das ist auch nicht ganz unproblematisch, denn die Öffentlichkeit erwartet von uns Wissenschaftlern klare Antworten, die wir oft so gar nicht liefern können.“
Dass sich viele Klimaforscher auch politisch engagieren, hält Thorsten Mauritsen nicht unbedingt für gut. Zwar ist auch er besorgt über den Klimawandel und seine Folgen, sehr sogar. „Aber unsere Stärke als Wissenschaftler ist doch, dass wir unabhängig sind. Auch unabhängig vom Ausgang unserer Forschung. Nur so können wir objektiv bleiben.“ Tief in seinem Wissenschaftler-Herzen schlummert allerdings auch eine „verrückte Seite“, wie er es nennt. Die Neugier darauf, was passieren würde, wenn der CO2-Anstieg ungebremst weiterginge. Ob sich wohl ein Widerspruch zur Theorie ergäbe? „Aber als jemand, der gerne auf dieser Erde lebt, kann ich auf dieses Experiment gut verzichten.“
GLOSSAR
Aerosole
Kleine Partikel in der Luft, an denen der Wasserdampf zu stabilen Tröpfchen kondensieren kann. Wie Aerosole auf das Klima wirken, ist noch nicht vollständig verstanden.
Karl Popper
Österreichischer Philosoph und Wissenschaftstheoretiker. Popper (* 1902 in Wien, + 1994 in Croydon bei London) begründete unter anderem den kritischen Rationalismus. Eine zentrale Rolle seiner Wissenschaftstheorie spielt der Begriff Falsifikationismus: Empirische Aussagen, die nicht falsifizierbar sind, werden als unwissenschaftlich eingestuft.
IPCC
Das Intergovernmental Panel on Climate Change – im Deutschen häufig als Weltklimarat bezeichnet – wurde im November 1988 vom Umweltprogramm der Vereinten Nationen und der Weltorganisation für Meteorologie gegründet. Eine der Hauptaufgabe des IPCC mit Sitz in Genf ist es, Risiken der globalen Erwärmung zu beurteilen sowie Vermeidungs- und Anpassungsstrategien zusammenzutragen.