Epigenetischer Regulator für Zell-Antennen
Der NSL-Komplex ist wichtiger Faktor bei der Kontrolle intraziliärer Transportgene
Der NSL-Komplex (non-specific lethal) reguliert Tausende von Genen in Fruchtfliegen und Säugetieren. Das Ausschalten der NSL-Gene führt zum Tod des Organismus, was dem Komplex seinen kuriosen Namen gab. Forschende des Freiburger Max-Planck-Instituts für Immunbiologie und Epigenetik haben nun herausgefunden, dass zu den Genen, die vom NSL-Komplex reguliert werden, auch Gene des intraziliaren Transportsystems gehören. Dieses ermöglicht es verschiedenen Zelltypen auf ihrer Oberfläche Zilien auszubilden, die wie kleine Zellantennen für die Zellkommunikation wichtig sind. Die Studie zeigt, dass diese Gene durch den NSL-Komplex „angeschaltet“ werden, unabhängig davon, ob eine bestimmte Zelle Zilien besitzt oder nicht. So fanden die Forschenden fanden heraus, dass diese Klasse von Zilien-assoziierten Genen für die Funktion von Podozyten von entscheidender Bedeutung ist. Dabei handelt es sich um einen hochspezialisierten Zelltyp der Niere, der paradoxerweise keine Zilien besitzt. Diese Erkenntnisse haben wichtige Implikationen für Ziliopathien und Nierenerkrankungen.
Zilien sind dünne, wimpernartige Organellen, die an der Oberfläche von Zellen herausragen. Sie erfüllen eine Vielzahl von Funktionen, fungieren als Mechano- oder Chemosensoren und spielen eine entscheidende Rolle in zahlreichen Signalübertragungswegen und somit für die Kommunikation der Zelle. Die Zilie hat in den letzten Jahrzehnten eine bemerkenswerte, Karriere gemacht. Von einem Organell, dessen Bedeutung unklar war, hat sie sich zu einem zentralen Akteur in der Pathogenese einer großen Gruppe von Krankheiten entwickelt. Diese sogenannten Ziliopathien werden mit einer Vielzahl von Symptomen in Verbindung gebracht, darunter Hörverlust, Sehstörungen, Fettleibigkeit, Nierenerkrankungen und geistige Behinderung. Verschiedene Genmutationen beeinträchtigen die Bildung, Aufrechterhaltung und Funktion der Zilien und führen zu diesen Ziliopathien, bei denen es sich manchmal auch um syndromale Erkrankungen handelt, die mehrere Organe gleichzeitig betreffen.
Entwicklung und korrekte Funktion der Zilien hängen von einem speziellen Proteintransportmechanismus ab, der als „intraciliar transport system“ bezeichnet wird. Bei diesem zilieninternen Transportsystem „wandern“ die Komponenten auf den Mikrotubuli, um Fracht in Form von Eiweißen zwischen dem Zellkörper und der Zilienspitze zu transportieren und so eine konstante Materialversorgung zu gewährleisten. Mutationen in Genen, die Bestandteile dieses Transportsystems kodieren, können zu Ziliopathien führen. In ihrer aktuellen Studie identifiziert das Labor von Asifa Akhtar vom Max-Planck-Institut für Immunbiologie und Epigenetik in Freiburg den NSL-Komplex als wichtigen Transkriptionsregulator der Genen, die für das Transportsystem der Zilien in verschiedenen Zelltypen elementar sind.
Der NSL-Komplex ermöglicht den intraziliären Transport
Der NSL-Komplex ist ein mächtiger, epigenetischer Regulator, der Tausende von Genen in Fruchtfliegen, Mäusen und im Menschen kontrolliert. Die meisten Funktionen des Komplexes sind jedoch noch unbekannt und werden erst seit kurzem erforscht. „Frühere Forschungsergebnisse aus unserem Labor deuten darauf hin, dass der Komplex viele Prozesse steuert, die für die Entwicklung des Organismus und die zelluläre Homöostase entscheidend sind“, sagt Asifa Akhtar, Direktorin am Max-Planck-Institut für Immunbiologie und Epigenetik in Freiburg.
Der NSL-Komplex besteht aus mehreren Eiweißen und ist eine sogenannte Histonacetyltransferase (HAT), also ein Enzym, das Gene für deren Aktivierung vorbereitet. „Man muss sich die Genregulation als eine Art von Teamleistung von verschiedenen Teammitgliedern vorstellen. Ein wichtiger Akteur ist der NSL-Komplex. Er markiert die Histonproteine, um die die DNA im Zellkern gewickelt ist. Diese Markierungen signalisieren anderen Regulatoren, bestimmte Gene der DNA einzuschalten. Wir haben nun herausgefunden, dass der NSL-Komplex genau das für eine Gruppe von Genen tut, die am Materialtransport im Zilium beteiligt sind“, sagt Tsz Hong Tsang, der Erstautor der Studie.
Ohne Komponenten des NSL-Komplexes kann die Zelle kein Zilium bilden
Die Zelle nutzt das intraziliäre Transportsystem, um Material von der Basis des Ziliums zur wachsenden Spitze zu befördern – ähnlich wie beim Bau eines Turms. In der Studie verwendeten die Freiburger Forscherinnen und Forscher Mauszellen, um die funktionellen Auswirkungen eines Verlusts des NSL-Komplexes in den Zellen zu bestimmen. Sie fanden heraus, dass Fibroblastenzellen, denen das NSL-Komplexprotein KANSL2 fehlt, weder die Transportgene aktivieren noch Zilien ausbilden können. „Der Verlust von KANSL2 und den dadurch fehlenden Zellantennen führt dazu, dass die Zellen beispielsweise nicht in der Lage sind, den Sonic-Hedgehog-Signalweg zu aktivieren. Dieser spielt eine wichtige Rolle bei der Regulierung Embryonalentwicklung, Zelldifferenzierung und auch bei Krebs“, erklärt Asifa Akhtar.
Obwohl es sich um nur winzige Ausstülpungen handelt, sind diese sensorischen Organellen für die Zellen von großer Bedeutung. Denn Ziliopathien, die so unterschiedliche Organe wie Niere, Leber, Auge, Ohr und das zentrale Nervensystem betreffen, bleiben eine Herausforderung für biologische und klinische Studien. Das Freiburger Max-Planck-Team erhofft sich von ihrer Analyse der Rolle des NSL-Komplexes wichtige Einblicke in die Regulation dieser Organellen und der mit ihnen verbundenen Gene.
Auch Folgen für Zellen ohne Zilien
Zilien kommen in den meisten Zelltypen des menschlichen Körpers vor. Dies erklärt, warum Ziliopathien so viele verschiedene Organe und Gewebe betreffen können. Aber es gibt auch Zellen, die keine Zilien besitzen. Zu diesen Zelltypen gehören die reifen glomerulären Podozyten, spezielle Filtrationszellen in der Niere. „Interessanterweise entdeckten wir, dass auch Podozyten intrazelluläre Transportgene exprimieren, die vom NSL-Komplex reguliert werden. Wir haben uns also gefragt, was passiert, wenn dieser Zelltyp diese Gene nicht anschalten kann“, sagt Tsz Hong Tsang.
Dabei zeigte sich, dass der Verlust des KANSL2-Eiweiß in Mäusepodozyten zu Veränderungen in der Mikrotubuli-Dynamik der Zellen führt. Mikrotubuli sind Komponenten des Zytoskeletts, die für die mechanische Stabilisierung der Zelle und den intrazellulären Transport zwischen verschiedenen Organellen verantwortlich sind. Obwohl reife Podozyten keine Zilien haben, verfügen sie über spezialisierte Zellfortsätze. Dieser erstrecken sich vom Zellkörper und werden als primäre und sekundäre Fortsätze bezeichnet. Ihre Funktionen hängen in hohem Maße von Komponenten des Zytoskeletts ab. Obwohl die Defekte scheinbar milder sind als die in Zelltypen mit Zilien, hat das Akhtar-Labor trotzdem schädigene Effekte nachweisen können. Denn die Defekte des Zytoskeletts sind wahrscheinlich die Ursache für schwere Glomerulopathien und Nierenversagen, die bei Mäusen beobachtet wurde, denen der NSL-Komplex fehlt. Diese aber auch andere extraziliäre Funktionen der intraziliären Transportgene könnten zukünftig auch dazu beitragen, die Komplexität der Symptome von Ziliopathien zu erklären.
MR/MS/THT