Auf die genetische Vielfalt kommt es an
Tabakpflanzen mit Abwehrschwäche produzieren in Jahren mit wenig Schädlingen mehr Nachkommen und bleiben dadurch in der Population bestehen
Ein Team von Forschenden am Max-Planck-Institut für chemische Ökologie in Jena zeigt in einer aktuellen Studie, dass eine einzelne Mutation, die unmittelbare Auswirkungen auf die pflanzliche Fitness hat, in natürlichen Pflanzenpopulationen langfristig erhalten bleibt, obwohl theoretische Vorhersagen das Gegenteil erwarten lassen. Die Forschenden lokalisierten und identifizierten das Gen, das die Menge der aktiven Verbindung eines Verteidigungshormons reguliert. Mutanten in diesem Gen sind anfällig gegenüber Schädlingsbefall. Allerdings kompensieren sie die Abwehrschwäche durch robuste genetische Netzwerke. Wenn weniger Fraßfeinde in der Nähe sind, wachsen sie sogar schneller und erzeugen mehr Nachkommen.
Pflanzen sind ihren Fraßfeinden nicht schutzlos ausgeliefert. Wenn ein Insekt an einem Blatt frisst, es damit verwundet und Mundsekrete abgibt, wird in der Pflanze eine Signalkaskade in Gang gesetzt, die in der Regel mit einem schnellen Anstieg der Menge des Pflanzenhormons Jasmonsäure und ihres aktiven Isoleucin-Konjugats beginnt. Damit werden verschiedene Reaktionen in Pflanzen reguliert, darunter die Abwehr von Fraßfeinden und Reaktionen auf Umweltstress.
Eine wichtige These der Evolutionstheorie ist die natürliche Selektion und die Schlussfolgerung, dass Mutanten mit nachteiligen Eigenschaften wieder verschwinden. Forschende des Max-Planck-Instituts für chemische Ökologie in Jena haben jedoch an der wilden Tabakart Nicotiana attenuata, die auch Kojotentabak genannt wird, Beobachtungen gemacht, die dieser Vorhersage widersprechen.
Als die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vor zwanzig Jahren Feldversuche mit Kojotentabakpflanzen, deren Abwehrsignale mittels Gentechnik stummgeschaltet waren, in ihrer natürlichen Umgebung, der Great Basin-Wüste im US-amerikanischen Bundesstaat Utah, durchführten, zogen diese Pflanzen Zikaden der Gattung Empoasca an, die nicht auf den wehrhaften Wildtypen anzutreffen waren. Gleichzeitig beobachteten die Forschenden, dass Fraßschäden durch Zikaden auch an einzelnen Individuen in natürlichen Populationen beobachtet werden konnten, für die nachgewiesen werden konnte, dass sie ebenfalls in ihrer natürlichen Abwehr beeinträchtigt waren.
Das Forschungsteam stellte jedoch auch fest, dass weitere abwehrgeschwächte Mutanten, die im Feld nur wenigen pflanzenfressenden Schädlingen ausgesetzt waren, deutlich schneller wuchsen als jene mit intakten Verteidigungssignalen. In Jahren mit hohem Schädlingsbefall wurden die Mutanten jedoch so stark angegriffen, dass sie nicht überlebten und sich auch nicht fortzupflanzen konnten. „Diese Ergebnisse veranlassten uns zu der Annahme, dass auch natürliche Tabakpopulationen Mutanten enthalten, deren Abwehr beeinträchtigt ist, und dass diese Mutanten in natürlichen Populationen durch Abwägungen zwischen wachstums- und abwehrbedingtem Selektionsdruck erhalten bleiben“, erläutert der Leiter der Studie Ian Baldwin den Ausgangspunkt der Studie.
Um diese Hypothese zu testen, entwickelte das Team um Ian Baldwin eine sogenannte MAGIC-Population, die einen großen Teil der genetischen Vielfalt der gesamten Art Nicotiana attenuata in einer Zuchtpopulation erfasst. Die Schaffung dieser Population erforderte ein Screening von Hunderten natürlicher Pflanzenakzessionen aus Saatgutsammlungen an unterschiedlichen Standorten in der Great Basin-Wüste aus drei Jahrzehnten, um schließlich 26 sehr unterschiedliche Elternlinien auszuwählen, die ein Jahrzehnt lang auf sehr strukturierte Weise miteinander gekreuzt wurden. Resultat dieser Kreuzungen ist die MAGIC-Population (multi-parent advanced generation inter-cross). Darüber hinaus erstellten die Forschenden ein hochwertiges zusammenhängendes Referenzgenom.
Vorrang von Wachstum und Fortpflanzung wird in Jahren mit wenig Schädlingsbefall zum Vorteil
Mit dieser Datengrundlage konnte das Forschungsteam die genetische Grundlage der höheren Anfälligkeit gegen Pflanzenschädlinge und der Variation in den Gehalten des Jasmonsäure-Konjugats genau kartieren und die ursächliche Mutation im Genom lokalisieren. „Beim Kojotentabak wirkt sich eine Variation im JAR-Gen darauf aus, wie viel des Jasmonsäure-Konjugats angereichert wird. Eine Mutation in diesem Gen führt zu einem niedrigeren Gehalt als bei normalen Pflanzen. Die Mutanten geben Wachstum und Fortpflanzung Vorrang vor der Verteidigung, wodurch sie anfälliger für Schädlinge sind, dafür aber schneller wachsen und mehr Nachkommen produzieren können“, sagt der Erstautor der Studie Rishav Ray. Zudem konnten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nachweisen, dass die Mutation dieses einzelnen Gens für die Signalübertragung bei der Pflanzenabwehr über mindestens zehn Jahre in einer Population erhalten bleibt und das Defizit in der Abwehr durch ein robustes genetisches Netzwerk abgefedert wird, so dass die Mutanten in der Natur überleben können.
Genetische Mutationen treten ständig und sind im Großen und Ganzen zufällig in den Genomen verteilt. Meistens sind diese Mutationen schädlich, aber gelegentlich sind sie in den Mutanten für hilfreiche Eigenschaften verantwortlich, die das Überleben in bestimmten Umgebungen erleichtern. Dabei kann, wie in der vorliegenden Studie, die Hauptmutation in ein robustes genetisches Netzwerk eingebunden sein und zu einer Anreicherung weiterer Mutationen mit großer Wirkung führen. Dadurch erhöht sich die genetische Vielfalt in natürlichen Populationen, was für ihr langfristiges Überleben und ihren Erfolg in den sich schnell verändernden Umwelt unseres Planeten wichtig ist. „Angesichts des sich schnell verändernden Klimas ist es wichtig zu verstehen und zu erkennen, wie natürliche Prozesse die genetische Vielfalt erhalten haben, damit wir bessere Wege finden können, die verbleibende Artenvielfalt auf unserem Planeten zu schützen und zu erhalten“, hebt Ian Baldwin nochmals die Bedeutung der Ergebnisse hervor.
Die umfangreichen Populationsstichproben, die der Wissenschaftler, der seit Jahrzehnten die Überlebensstrategien dieser wilden Tabakart erforscht, bereits vor 30 Jahren in der Great Basin-Wüste durchführte, waren entscheidend für den Erfolg der Studie. Dies zeigt, dass sich auch nach vielen Jahren das Sammeln solcher Proben noch als wertvoll erweisen kann, und unterstreicht, wie wichtig es ist, solche Forschungsprojekte auch langfristig zu fördern.