Vom Zauber der Arktis
Elspeth Ready vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig reist für ihre Studien regelmäßig in die kanadische Arktis. Sie erzählt von grandioser Weite, besonderen kulinarischen Genüssen und einer eisigen Fahrt auf dem Hundeschlitten.
Das Dorf Kangiqsujuaq hat 800 Einwohner und liegt in der Region Nunavik im äußersten Norden Quebecs. Von Montreal aus fliegt man zuerst nach Kuujjuaq. Dort steigt man in ein kleineres Flugzeug um, das verschiedene Küstenorte entlang der Hudson Strait ansteuert. Die Reise von Kuujjuaq aus dauert normalerweise einen halben Tag. Man muss allerdings Geduld mitbringen und flexibel sein, denn oft werden Flüge wegen schlechten Wetters verschoben – manchmal um mehrere Tage.
Im Jahr 2011 war ich zum ersten Mal in Kangiqsujuaq, gemeinsam mit einem Team von Archäologinnen und Archäologen. Wir arbeiteten damals an der Dokumentation von halb unterirdischen Häusern, wenige Kilometer vom heutigen Dorf entfernt. Sie waren jahrhundertelang sowohl von Inuit bewohnt worden als auch von Tuniit – einer Bevölkerungsgruppe, die vor der Ankunft der Inuit in der Region lebte. Nach diesem ersten Sommer kehrte ich immer wieder nach Kangiqsujuaq zurück. Motiviert durch meine Erfahrungen und die Gespräche mit Jägern, entwickelte ich ein Forschungsprojekt, um herauszufinden, welche Rolle die Jagd und die gemeinsame Nutzung von Lebensmitteln für die Ernährungssicherheit in Inuit-Gemeinschaften spielen.
In den vergangenen hundert Jahren haben die Inuit extreme Veränderungen erlebt: Viele Ältere wurden in Iglus oder Zelten geboren und lebten auf dem Land, bis sie in den 1960er-Jahren von der Regierung aufgefordert wurden, ins Dorf zu ziehen. Heute wohnen die Inuit in festen Häusern und kaufen Lebensmittel und Dinge des täglichen Bedarfs in Geschäften. Die eigene Sprache und kulturelle Praktiken wie die Jagd und das Teilen von Lebensmitteln haben noch immer einen hohen Stellenwert. Trotzdem war der Umbruch nicht leicht. In einem meiner aktuellen Projekte geht es um Stress und um Strategien zur Stressbewältigung. Dabei arbeite ich mit dem Gemeinderat vor Ort zusammen.
Bei meinem letzten Aufenthalt in Kangiqsujuaq konnte ich eine kleine Lehrerwohnung nutzen, die in den Schulferien frei war. Vormittags schreibe ich normalerweise Feldnotizen, am Nachmittag führe ich Interviews. Am Abend besuche ich oft meine Freunde im Dorf. Die Inuit servieren Besuchern gerne lokale Spezialitäten wie Karibu, Robbe, Belugawal, Gans oder Schneehuhn. Mein persönlicher Favorit ist der Seesaibling. Er schmeckt so ähnlich wie Lachs, aber viel besser! Getrocknet und mit Montreal-Steakgewürz mag ich ihn ganz besonders.
Traditionelle Lebensmittel sind für die Inuit heute eine wichtige Quelle für Nährstoffe und Vitamine. Frische Lebensmittel gibt es nur selten in den Supermärkten in Kangiqsujuaq. Reis, Nudeln und andere nicht verderbliche Waren werden im Sommer per Frachtschiff angeliefert. Eine Auswahl von frischem Obst und Gemüse kommt wöchentlich mit dem Flugzeug, ist aber schnell vergriffen und sehr teuer. Traditionelle Lebensmittel werden weithin geteilt, und dieses Teilen bringt die Familien und die Gemeinschaft näher zusammen. Um so viel wie möglich über den Nahrungserwerb zu lernen, nehme ich an Jagd- und Angelausflügen teil, sooft sich die Gelegenheit bietet. Ich bin in der Lage, ein Schneemobil zu steuern, und helfe, wo ich kann – etwa beim Zerlegen eines Wals.
In der arktischen Landschaft unterwegs zu sein, ist für mich ein erhebendes Gefühl. Die Weite und Freiheit sind unbeschreiblich. In Deutschland werde ich oft gefragt, wie ich mit der Dunkelheit des arktischen Winters zurechtkomme, aber ich bin in Kanada aufgewachsen und war daher schon als Kind gewöhnt, im Dunkeln zur Schule zu gehen und nach Hause zu kommen. Den deutschen Winter empfinde ich oft als viel bedrückender – grau in grau und wolkenverhangen. In der Arktis ist der Himmel meist klar, und man sieht den Mond und die Sterne. Der Schnee macht alles hell.
Einmal habe ich mit Freunden eine Hundeschlittentour unternommen. Sieben Stunden lang fuhren wir über die verschneite Tundra und das Meereis bis zu einer kleinen Hütte, wo wir die Nacht verbrachten. Am nächsten Tag ging es wieder zurück. Während der mehrstündigen Schlittenfahrt bei minus 25 Grad Celsius habe ich mir eine Erfrierung an der Nase zugezogen. Meine Inuit-Begleiter haben es zum Glück rechtzeitig bemerkt, und daher ist alles wieder gut verheilt!