Erstes Treffen mit einer Neandertalerfamilie

Uralte Genome von dreizehn Neandertalern geben Einblicke in ihr Gesellschafts- und Sozialgefüge

19. Oktober 2022

Einem internationalen Team unter der Leitung des Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie in Leipzig ist es erstmals gelungen, die Genome mehrerer Mitglieder einer Neandertalergruppe zu sequenzieren. Unter den dreizehn Neandertalern aus Sibirien entdeckten die Forschenden mehrere miteinander verwandte Personen – darunter einen Vater und seine jugendliche Tochter. Zudem haben die Forschenden aus den dreizehn Genomen erste Einblicke in die soziale Organisation einer Neandertalergemeinschaft gewonnen. Es scheint sich um eine kleine Gruppe enger Verwandter gehandelt zu haben, die aus zehn bis 20 Mitgliedern bestand. Bindeglieder zwischen verschiedenen Neandertalergruppen waren wohl in erster Linie migrierende Frauen.

Eine erste Version des Neandertaler-Genoms wurde 2010 veröffentlicht. Seitdem haben Forschende des Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie weitere 18 Genome sequenziert – aus 14 verschiedenen archäologischen Fundstätten aus ganz Eurasien. Obwohl diese Genome bereits einige grundlegende Einblicke in die Geschichte der Neandertaler ermöglicht haben, wissen wir immer noch recht wenig darüber, wie einzelne Neandertalergruppen damals ihr Zusammenleben organisiert hatten.

Um die Sozialstrukturen der Neandertaler zu erforschen, blickten die Forschenden ins südliche Sibirien, eine Region, die zur Erforschung alter DNA bereits entscheidend beigetragen hat, unter anderem durch die Entdeckung von Überresten der Denisovaner in der berühmten Denisova-Höhle. Arbeiten an dieser Stätte ergaben, dass Neandertaler und Denisovaner über Hunderttausende von Jahren in dieser Region gelebt und dass Neandertaler und Denisovaner miteinander interagiert haben, wie der Fund eines Kindes mit einem Denisovaner-Vater und einer Neandertaler-Mutter gezeigt hat.

Erste Neandertaler-Gemeinschaft

In ihrer neuen Studie konzentrierten sich die Forschenden auf die Analyse von Überresten von Neandertalern aus den Chagyrskaya- und der Okladnikov-Höhlen, die beide weniger als 100 Kilometer von der Denisova-Höhle entfernt sind. Neandertaler bewohnten diese beiden Höhlen vor etwa 54.000 Jahren für einen kurzen Zeitraum. Aus den Ablagerungen haben die Forschenden die Überreste von mehreren Neandertalern geborgen, die möglicherweise zur selben Zeit dort gelebt hatten. „Es ist uns gelungen, Erbgut aus 17 verschiedenen Neandertaler-Überresten zu entnehmen und zu sequenzieren – so viele wie noch nie zuvor im Rahmen einer einzigen Studie“, so das Autorenteam.

Ausgrabungsarbeiten in der Chagyrskaya-Höhle fanden in den vergangenen 14 Jahren unter der Leitung von Forschenden des Instituts für Archäologie und Ethnographie der Russischen Akademie der Wissenschaften statt. Neben mehreren hunderttausend Steinwerkzeugen und Tierknochen fanden die Wissenschaftler auch mehr als 80 Knochen- und Zahnfragmente von Neandertalern, eine der größten archäologischen Sammlungen an Überresten dieser fossilen Menschen weltweit.

In Chagyrskaya und Okladnikov jagten die Neandertaler Steinböcke, Pferde, Bisons und andere Tiere, die durch die Flusstäler zogen. Sie sammelten Rohmaterial für ihre Steinwerkzeuge in einem Umkreis von Dutzenden von Kilometern von den Höhlen entfernt. Das Vorkommen desselben Rohmaterials in den Höhlen von Chagyrskaya und Okladnikov stützt zusätzlich aber auch genetische Daten, die darauf hindeuten, dass die Gruppen, die diese Orte bewohnten, eng miteinander verbunden waren.

Frühere Untersuchungen eines fossilen Zehs aus der Denisova-Höhle haben gezeigt, dass Neandertaler das Altai-Gebirge auch schon wesentlich früher, vor etwa 120.000 Jahren, bewohnt haben. Genetische Daten zeigen jedoch, dass die Neandertaler aus den Höhlen von Chagyrskaya und Okladnikov nicht von diesen früheren Gruppen abstammen, sondern näher mit den europäischen Neandertalern verwandt sind. Dafür sprechen auch archäologische Funde: Die Steinwerkzeuge aus der Chagyrskaya-Höhle sind Steinwerkzeugen aus dem Gebiet des heutigen Deutschland und Osteuropa am ähnlichsten, die der so genannten Micoquien-Kultur zugerechnet werden.

Die 17 Überreste stammen von dreizehn Neandertalern – sieben männlichen und sechs weiblichen. Darunter befanden sich acht erwachsene Neandertaler und fünf im Kindes- oder Jugendalter. In ihrer mitochondrialen DNA fanden sich mehrere so genannte Heteroplasmen, die sie miteinander gemein hatten. Heteroplasmen sind eine besondere Art einer genetischen Variante, die nur über eine geringe Anzahl von Generationen hinweg bestehen bleibt.

Die östlichsten Neandertaler

Unter den Überresten befanden sich auch die eines Neandertalervaters und seiner Tochter im Teenageralter. Zusätzlich entdeckten die Wissenschaftler auch zwei Individuen, die Verwandte zweiten Grades waren: einen kleinen Jungen und eine erwachsene Frau, vielleicht seine Cousine, Tante oder Großmutter. Dass die Forschenden sowohl Heteroplasmen als auch Verwandtschaften einiger Individuen miteinander nachweisen konnten, deutet stark darauf hin, dass die Neandertaler in der Chagyrskaya-Höhle etwa zur gleichen Zeit gelebt haben und gestorben sind. „Dass sie zur gleichen Zeit gelebt haben, ist für uns sehr aufregend, denn das bedeutet, sie gehörten möglicherweise der gleichen sozialen Gemeinschaft an. So können wir zum ersten Mal mithilfe der Genetik die soziale Organisation einer Neandertalergruppe untersuchen“, sagt Erstautor Laurits Skov.

Ein weiteres auffälliges Ergebnis der Studie ist die extrem geringe genetische Vielfalt innerhalb dieser Neandertalergemeinschaft, die einer Gruppengröße von nur zehn bis 20 Individuen entspricht – eine viel geringere Anzahl, als bisher für andere frühe oder heute lebende menschlichen Gemeinschaften dokumentiert wurde – was eher den Gruppengrößen von Arten ähnelt, die vom Aussterben bedroht sind.

Neandertalergruppen lebten jedoch nicht in völliger Isolation. Indem sie die genetische Vielfalt auf dem Y-Chromosom – das vom Vater zum Sohn vererbt wird – mit der Vielfalt der mitochondrialen DNA – die von der Mutter an die Kinder vererbt wird – verglichen haben, haben die Forschenden herausgefunden, ob es Männer oder Frauen waren, die ihre Geburtsgruppe verließen um sich einer anderen Gemeinschaft anzuschließen. „Die mitochondriale genetische Vielfalt war viel größer als die Diversität auf dem Y-Chromosom. Neandertaler-Gemeinschaften waren also in erster Linie durch die Migration von Frauen genetisch miteinander verbunden“, so das Autorenteam. „Trotz der Nähe zur Denisova-Höhle scheinen an diesen Migrationen keine Denisovanerinnen beteiligt gewesen zu sein. Zumindest für die letzten 20.000 Jahre, bevor die Neandertaler die Chagyrskaya-Höhle bwohnten, fanden wir keine Hinweise darauf, dass unter ihren Vorfahren Denisovaner gewesen wären.“

„Unsere Studie zeichnet ein ganz konkretes Bild davon, wie eine Neandertalergemeinschaft ausgesehen haben könnte“, sagt Letztautor Benjamin Peter. „Das lässt mir die Neandertaler viel menschlicher erscheinen.“

SJ/BP

Weitere interessante Beiträge

Zur Redakteursansicht