Eisige Zeiten

Kälte hat das Leben des Menschen in Europa jahrtausendelang geprägt

Von den Temperaturen in den Kaltzeiten des Eiszeitalters aus Mitteleuropa vertrieben, eroberte der Homo sapiens sich die vormals unbewohnbaren Regionen in den Warmzeiten immer wieder zurück. Diese Migrationen erforschen Johannes Krause und sein Team am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig.

Text: Thomas Trappe

Angefallen von einer Hyäne, in eine Höhle gezerrt und getötet – über das Schicksal der Frau, die vor mehr als 40 000 Jahren nahe der Höhle Zlatý kůň im heutigen Tschechien lebte, wäre heute nichts bekannt, hätten nicht Mitte des 20. Jahrhunderts Archäologen ihre Überreste entdeckt. Bissspuren an den Knochen zeugen bis heute von dem Drama. Seit den 1950er-Jahren lagen die Knochen weitestgehend unbeachtet in einem archäologischen Museum in Prag. Bis sie 2021 ein Geheimnis preisgaben, das weit über die Todesumstände des Opfers hinausweist. Sie sind nämlich der Beleg dafür, dass der moderne Mensch schon sehr viel früher nach Europa gekommen sein muss als bis dahin angenommen.

Der Fund verrät auch, wie schwer es für den Homo sapiens war, den immer wieder von Eis und Schnee bedeckten Kontinent dauerhaft zu erobern. Mithilfe der sogenannten Paläogenetik können Forschende das Erbgut jahrtausendealter Knochen analysieren und die Geschichte der Migration im eiszeitlichen Europa nacherzählen. So entsteht das Bild eines Kontinents, in den Neandertaler und moderner Mensch mehrfach einwanderten und aus dem sie wieder verschwanden, wenn sie dem rauen Klima nicht gewachsen waren.

Johannes Krause ist einer der weltweit führenden Archäogenetiker. Als Doktorand hat der heute 43-Jährige an der Entschlüsselung des Neandertalergenoms durch Svante Pääbo mitgewirkt – eine Leistung, für die Pääbo 2022 mit dem Nobelpreis für Medizin ausgezeichnet wurde. Inzwischen ist Krause Direktor am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie. Den Arbeiten, an denen der Wissenschaftler mitgewirkt hat, verdanken wir unter anderem die Gewissheit, dass alle Menschen, die heute außerhalb des südlichen Afrikas leben, im Schnitt rund zwei Prozent Neandertaler-DNA in sich tragen. Mithilfe der DNA aus einem winzigen Fingerknochen gelang Krause auch die Entdeckung der Denisovaner, einer bis dato unbekannten Menschenform.

Kalt und warm im Wechsel

Die Forschungsergebnisse aus der Archäogenetik zeigen, dass der moderne Mensch mehrere Anläufe benötigte, um in Europa dauerhaft Fuß zu fassen. Wann immer das Klima es zuließ, stieß der Homo sapiens aus dem Süden in den Norden vor. Und das immer wieder aufs Neue. Denn das Eiszeitalter, das vor zweieinhalb Millionen Jahren einsetzte und bis vor rund 11 500 Jahren andauerte, war keineswegs durchgängig kalt. Vielmehr wechselten Kalt- und Warmzeiten einander ab. Grund für diese Schwankungen waren Veränderungen der Erdumlaufbahn um die Sonne. Dadurch änderten sich der Abstand der Erde zur Sonne und damit auch die globale Temperatur. Auf den Höhepunkten mancher Warmzeiten lagen die globalen Durchschnitts­temperaturen sogar über denen der Gegenwart. „Eigentlich leben wir heute auch nur in einer eiszeit­lichen Warmphase“, sagt Krause. Mit jedem Klima­umschwung veränderte sich auch die Pflanzen- und Tierwelt. Oftmals ging das mit einem radikalen Umbruch der Lebensgrundlagen einher, und manchmal machte das ganzen Populationen den Garaus. Hinzu kam, dass sich der Homo sapiens in Europa, im westlichen Zen­tralasien und im Nahen Osten seinen Lebensraum mit einer weiteren Menschenform teilte: dem Neandertaler. Dieser hatte sich vor der Ankunft des modernen Menschen rund 400 000 Jahre lang unter ganz unterschiedlichen klimatischen Bedingungen behauptet und sich sowohl in der Kältesteppe als auch in den Wäldern der Warmzeiten zurechtgefunden.

Die Frau aus der Höhle Zlatý kůň ist einer der ersten nachgewiesenen modernen Menschen in Europa. Die Erbgutanalyse ihrer Knochen ergab, dass ihre Vorfahren vor mehr als 45 000 Jahren auf den Kontinent gekommen sein müssen – und damit mindestens 2000 Jahre früher, als die Forschung bis dahin angenommen hatte. Dauerhaft halten konnten sich diese Menschen offenbar nicht, denn sie hinterließen keine Spuren im Erbgut heute lebender Menschen. Irgendwann müssen ihre Nachkommen ausgestorben und die Linie von Zlatý kůň erloschen sein.

Die durch den Fund ermöglichte Neudatierung der vielleicht ersten Einwanderungswelle des modernen Menschen lässt Krause an einer bis heute gängigen Interpretation zweifeln: dass der Homo sapiens für das Aussterben des Neandertalers vor rund 39 000 Jahren verantwortlich sei. „Offensichtlich lebten die Populationen ja mehrere Tausend Jahre lang nebeneinander“, sagt Krause. Hinzu kommt, dass sich die beiden Menschenformen miteinander vermischt haben – Neandertalergene in unserem Erbgut zeugen bis heute davon. Krause vermutet, dass eine Naturkatastrophe maßgeblich zum Verschwinden der Neandertaler und der ersten modernen Menschen in Europa beigetragen haben könnte: der Ausbruch eines Supervulkans. Eine Eruption der Phlegräischen Felder in der Nähe des Vesuvs schleuderte damals riesige Mengen Asche in die Atmosphäre und verdunkelte die Sonne. In großen Teilen Europas bis ins heutige Russland sanken die Temperaturen daraufhin um mehrere Grad. Aufgrund des Lichtmangels und der dicken Ascheschicht dürfte die Vegetation in weiten Teilen Europas verkümmert gewesen sein. Dadurch war vielen Tieren und folglich auch den Neandertalern und den Nachfahren der Frau aus der Höhle Zlatý kůň die Nahrungsgrundlage entzogen. Darüber hinaus hatte der Ascheregen vermutlich in vielen Gebieten das Trinkwasser vergiftet.

„Der Vulkanausbruch ist aus meiner Sicht die schlüssigste Erklärung dafür, dass in jener Zeit nicht nur die Neandertaler verschwinden, sondern auch die modernen Menschen“, erklärt Johannes Krause. Der Homo sapiens hatte aber die Chance einer Neuansiedlung. Schon vor ein paar Jahren haben Krause und sein Team menschliche Überreste untersucht, die in Kostenki im Westen Russlands entdeckt worden waren. Die Analysen ergaben, dass dieser Mensch einst in der Asche des Supervulkans bestattet worden war – folglich nach dem Ausbruch in dem Gebiet gelebt haben muss. Die aus den Knochen gewonnenen genetischen Spuren lassen sich in späteren eiszeit­lichen Menschen bis hin zu den heutigen Europäern nachweisen.

Dabei waren die Voraussetzungen für diese Wiederbesiedlung Europas gar nicht besonders günstig, denn vor mehr als 30 000 Jahren begann eine neue Kaltzeit. Das Überleben wurde für Mensch und Tier immer schwieriger. Die Erbgutanalysen zeigen, dass die Populationen in jener Zeit massiv schrumpften. Dies bot eine Gelegenheit für Einwanderer, die vermutlich aus Osteuropa kamen. Fachleute haben diese und nachfolgende Popula­tionen nach den Fundorten benannt; die Einwanderer aus dem Osten beispielsweise heißen Věstonice-Menschen – nach einer archäologischen Stätte in Tschechien. In Mitteleuropa trafen sie auf die Fournol, eine Gruppe, die damals vor allem das westliche Europa bis nach Süden auf die Iberische Halb­insel bewohnte. Die Věstonice-Menschen hatten bereits Techniken entwickelt, mit denen sie erfolgreich Mammuts und andere große Säugetiere erlegen konnten, die an das Leben in der sich vor mehr als 30 000 Jahren in Mitteleuropa ausbreitenden Kälte­steppe angepasst waren und die angestammten west- und zentraleuropäischen Tierarten verdrängten. So starb die für die Menschen so gefährliche Höhlen­hyäne in dieser Phase aus. „Was damals geschah, steht exemplarisch für die gesamte Eiszeit“, erklärt Krause. „Klimaschwankungen veränderten Flora und Fauna, und wer mit den neuen Lebensbedingungen nicht zurechtkam – egal ob Neandertaler oder moderner Mensch –, verschwand. Das eröffnete Chancen für besser angepasste Populationen.“ Vor 24 000 Jahren erreichte die Kälteperiode ihren Höhepunkt. Nur wenige Tiere und Pflanzen konnten nun in Mitteleuropa noch überleben. Die immer weiter vor­rückenden Gletscher in Nordeuropa und den Alpen trieben die Fournol-­Menschen in den äußersten Südwesten. Auf der Iberischen Halbinsel fanden sie während des Kälte­maximums zusammen mit den dort bereits lebenden Menschen eine Heimat – abgeschottet vom restlichen Kontinent durch die vergletscherten Pyrenäen. Jahrtausendelang bot das iberische Refugium Schutz, während im Rest Europas menschliches Leben unmöglich war. Erst 5000 Jahre später, also etwa vor 19 000 Jahren, begannen die Gletscher zu tauen, und die Menschen kehrten zurück.

Krauses Team im März 2023 veröffentlichte, belegen, dass – anders als zuvor angenommen – auch in Italien während des Höhepunkts der Kälte­zeit keine Menschen lebten. Erst als die Temperaturen stiegen, wanderten moderne Menschen aus der Balkan­region entlang der Adria wieder in das heutige Italien ein. Die dort gedeihenden Wälder boten den Neuankömmlingen gute Lebensbedingungen. Sie werden heute als Villabruna-Menschen bezeichnet.

Als vor 14 500 Jahren eine rund 2000 Jahre dauernde Warmzeit einsetzte und die Temperaturen innerhalb kurzer Zeit anstiegen, begannen sich die Villabruna von Italien aus über große Teile Europas auszubreiten. Sie verdrängten die Nachfahren der Fournol, die während des Höhepunkts der letzten Kaltzeit südlich der Pyrenäen überlebt und Mitteleuropa von dort aus wiederbesiedelt hatten. Die Fournol konnten sich nur auf der Iberischen Halbinsel halten. „Die Spuren dieser Umwälzung können wir heute noch im Erbgut der Menschen von damals ablesen: Unsere Analysen zeigen, dass die Gene der aus Italien kommenden Menschen nach nur etwa  500 Jahren im Erbgut der Menschen im heutigen Deutschland, in Frankreich und Großbritannien dominierten.“ Die Gene der in der Forschung so genannten Oberkassel-Menschen machen bis heute einen Teil des Erbguts der Europäer aus.

„Ausschlaggebend für diese Einwanderungswelle war vermutlich erneut ein Klimaumschwung“, sagt Johannes Krause. Der dank der Erwärmung nach Norden vordringende Wald ersetzte nach und nach die Steppenvegetation der Eiszeit. Für die Jagd kleiner und schneller Waldtiere waren nun andere Jagd- und Sammeltechniken sowie Wissen über die essbaren Pilze und Pflanzen des Waldes erforderlich – Fähigkeiten, welche die Neuankömmlinge der Villabruna aus der zu jener Zeit bereits bewaldeten italienischen Halbinsel perfekt beherrschten.

Bauern aus Anatolien

Als Nächstes wanderten vor rund 8000 Jahren Ackerbauern aus dem südlichen Anatolien ein und vermischten sich im Laufe der Zeit mit den einheimischen Ober­kassel-Menschen. „Ötzi“ zum Beispiel war ein direkter Nachfahre dieser Einwanderer aus Anatolien. Zu diesem Ergebnis kam eine Untersuchung, die Johannes Krause und sein Team 2023 veröffentlichten. Der vor mehr als 5000 Jahren im Hochgebirge gestorbene „Mann aus dem Eis“ gehörte anscheinend zu einer Gruppe, die sehr isoliert in den Alpen lebte – eine Ausnahme in der Besiedlungsgeschichte Europas.

Aber bei diesen Einwanderern blieb es nicht: Krauses Team entdeckte eine weitere Komponente im Genpool heutiger Europäer: Vor 5000 Jahren etwa kamen Angehörige eines Nomadenvolkes aus der Region nördlich des Schwarzen Meers nach Mitteleuropa. Sie müssen schnell zur dominierenden Gruppe geworden sein – der Anteil der „Steppengene“ im Erbgut betrug schon nach wenigen Hundert Jahren rund 30 Prozent. Gab es wieder einen Temperatursturz? Oder waren die Ankömmlinge keine friedlichen Einwanderer, sondern Eroberer? Für beides gibt es keine Hinweise. Stattdessen könnte Mitteleuropa zu jener Zeit in weiten Teilen menschenleer gewesen sein: DNA-Spuren des Pestbakteriums in Knochen aus jener Zeit deuten darauf hin, dass eine der ersten Pestepidemien der Geschichte große Teile der Bevölkerung dahingerafft und so den Boden für die nächste Einwanderungswelle bereitet hatte. ungsgeschichte Europas.

Auch wenn das Klima mit dieser vorerst letzten großen genetisch nachweisbaren Migration nach Europa nichts zu tun hatte – es hat die Besiedlung des Kontinents jahrtausendelang nachhaltig beeinflusst. Mal war der Homo sapiens Opfer des Klimas, mal hat er davon profitiert. Heute steht der Mensch erneut vor einschneidenden Veränderungen. Die Temperaturen steigen so schnell wie nie zuvor in den vergangenen zehntausend Jahren, in denen die menschliche Kultur aufblühte – dieses Mal sind nicht Schwankungen der Erdumlaufbahn Ursache, sondern der massive Ausstoß von Treibhausgasen. Statt einer Eiszeit steht dem Menschen nun eine Heißzeit bevor. In manchen Regionen wird das Überleben schwierig oder gar unmöglich werden. Und so wird das Klima die Migrationsgeschichte des Menschen erneut prägen.

Auf den Punkt gebracht

  • Die ersten bekannten Einwanderer des Homo sapiens kamen vor 45 000 Jahren nach Europa. Vor 39 000 Jahren bereitete ein Vulkanausbruch auf der italienischen Halbinsel dieser ersten bekannten Besiedlung jedoch ein Ende. Die Neandertaler starben in dieser Zeit aus.

  • Den Höhepunkt der letzten Kaltzeit vor 24 000 Jahren überlebten die Menschen auf der Iberischen Halbinsel und dem Balkan. Mitteleuropa und die italienische Halbinsel waren dagegen menschenleer.

  • Mit wieder steigenden Temperaturen vor 19 000 Jahren kehrten Menschen, ausgehend von der Iberischen Halbinsel, wieder zurück. Etwa zeitgleich wanderten Menschen aus der Balkanregion in das heutige Italien ein. Nachkommen dieser Einwanderer breiteten sich vor ca. 14 500 Jahren über ganz Mitteleuropa aus und sind bis heute Teil unseres genetischen Erbes.

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