Britanniens früheste Menschen

Homo heidelbergensis könnte vor 560.000 bis 620.000 Jahren im Süden Großbritanniens gelebt haben

22. Juni 2022

Archäologische Funde nahe Canterbury, Kent (England), bestätigen, dass sich bereits vor etwa 560.000 bis 620.000 Jahren Menschen im Süden Großbritanniens aufgehalten haben. Einhundert Jahre, nachdem dort erstmals Steinwerkzeuge entdeckt wurden, führten nun weitere Ausgrabungsarbeiten und die radiometrische Datierung der Funde zum Durchbruch. Ein internationales Forschungsteam unter der Leitung der University of Cambridge konnte belegen, dass Homo heidelbergensis, ein Vorfahre des Neandertalers, damals das südliche Britannien – als es noch mit Europa verbunden war – bewohnte und schon zu diesem frühen Zeitpunkt Tierhäute be- und verarbeitet hat.

Die in einem alten Flussbett gelegene Fundstätte in Canterbury wurde ursprünglich in den 1920er Jahren entdeckt, als Arbeiter dort Faustkeile fanden, deren Alter nun schließlich mit Hilfe moderner Datierungsmethoden, die im Rahmen aktueller Ausgrabungsarbeiten zum Einsatz kamen, bestimmt werden konnte. Forschende der University of Cambridge haben bei diesen erneuten Ausgrabungen aber nicht nur die ursprüngliche Fundstätte datiert. Zusätzlich haben sie dort neue Feuersteinartefakte entdeckt, darunter erstmals auch „Schaber“. Mit Hilfe der Infrarot-Radiofluoreszenz-Datierung (IR-RF) ist es dem Forschungsteam dann gelungen festzustellen, wann die umlagernden Feldspat-Sandkörner zum letzten Mal dem Sonnenlicht ausgesetzt waren, wann also die Werkzeuge von Sedimenten überlagert wurden.

In ihrer Studie verweisen die Forschenden auf frühere Studien, die besagen, dass Menschen sich bereits vor 840.000, möglicherweise sogar bereits vor 950.000 Jahren in Großbritannien aufgehalten haben. Diese frühen Besuche waren jedoch nur von kurzer Dauer. Kaltzeiten vertrieben menschliche Populationen wiederholt aus Nordeuropa und auf eine Wiederbesiedlung Großbritanniens während der Warmzeit vor 560.000 bis 620.000 Jahren deutete bisher nur wenig hin. An mehreren Fundorten in Suffolk vermutete man Werkzeuge aus dieser Zeit, aber eine genaue Datierung dieser Fundstücke gelang bisher noch nicht.

Vielfalt der Werkzeuge: Faustkeile, Schab- und Stechwerkzeuge

„Das ist das Wunderbare an dieser Fundstätte in Kent“, sagt Tobias Lauer von der Universität Tübingen, der die Datierung der neuen Fundstelle leitete. „Die Artefakte befinden sich genau dort, wohin der alte Fluss sie getrieben hat. Somit können wir sicher sagen, dass sie hergestellt wurden, bevor sich der Fluss in einen anderen Bereich des Tals verlagerte.“ Alastair Key von der University of Cambridge, der die Ausgrabung leitete, ergänzt: „Die Vielfalt an Werkzeugen ist fantastisch. In den 1920er Jahren wurden an diesem Ort einige der ältesten Faustkeile gefunden, die jemals in Großbritannien entdeckt wurden. Jetzt haben wir zum ersten Mal Belege für Schab- und Stechwerkzeuge aus dieser sehr frühen Zeit gefunden.“

Der Homo heidelbergensis war ein Jäger und Sammler, der tierische und pflanzliche Nahrung zu sich nahm. Der Großteil der Werkzeuge diente also möglicherweise zur Verarbeitung von Tierkadavern – wie zum Beispiel von Hirschen, Pferden, Nashörnern und Bisons – sowie zur Beschaffung und Verarbeitung von Knollen und anderen Pflanzenteilen. Ein Beleg dafür sind die scharfkantigen Flocken- und Faustkeilwerkzeuge, die an der Fundstelle zu finden sind. Funde von Schab- und Stechwerkzeugen deuten aber darauf hin, dass die Menschen damals noch weiteren Aktivitäten nachgegangen sein könnten.

Belege für die Bearbeitung von Tierhäuten

Tomos Proffitt vom Leipziger Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie, der die Werkzeuge analysierte, sagt: „Schaber wurden in der Steinzeit oft zur Verarbeitung von Tierhäuten genutzt. Die Funde deuten möglicherweise darauf hin, dass die damaligen Menschen Tierhäute zur Herstellung von Kleidung und für ihre Behausungen genutzt haben.“ Das große Spektrum an Steinwerkzeugen, nicht nur unter den ursprünglichen, sondern auch unter den neuen Funden, zeigt, dass die Homininen damals im heutigen Großbritannien nicht nur überlebten, sondern dass es ihnen dort gut ging.

Zu dieser Zeit war Großbritannien noch keine Insel, sondern es handelte sich bei dem Gebiet um die nordwestliche Halbinsel des europäischen Kontinents. Die damaligen Menschen konnten sich also in einem sehr viel weiteren Umkreis bewegen, als es die heutige Küstenlinie von Kent erlaubt – wobei die Fundstätte aber möglicherweise nur in den wärmeren Sommermonaten aufgesucht wurde. Matthew Skinner von der University of Kent, der an der Leitung der Ausgrabungsarbeiten beteiligt war, sagt: „Es gibt noch so viel über diese menschlichen Populationen zu erfahren. Vor allem hoffen wir, bei künftigen Ausgrabungen Skelettüberreste der Menschen zu finden, die diese Steinwerkzeuge, die in Großbritannien sehr selten sind, hergestellt haben.“ Zukünftige Ausgrabungsarbeiten sollen zu weiteren interessanten Erkenntnissen über das Leben und Verhalten dieser frühen Menschen führen.

[SJ/TL]

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