Wie Wertvorstellungen unsere Wahrnehmung beeinflussen

Was wir in unserer Umwelt wahrnehmen ist manchmal das Ergebnis eines wertbasierten Entscheidungsprozesses

Für uns Menschen erscheint das, was wir sehen, ein unkomplizierter Vorgang zu sein. Tatsächlich aber sind die hierfür zugrunde liegenden Berechnungen unseres Gehirns überraschend komplex. Eine aufschlussreiche Möglichkeit, Wahrnehmungsprozesse wissenschaftlich näher zu untersuchen, besteht darin, Testpersonen visuellen Reizen auszusetzen, die ihnen nicht eindeutig interpretierbar erscheinen. Bei widersprüchlichen Wahrnehmungen, wie sie zum Beispiel von Kippbildern bekannt sind, tendiert das Gehirn dazu, zwischen verschiedenen Interpretationen hin und her zu schalten. Dieser Verschaltungsprozess folgt bestimmten Regeln, die unter dem Begriff der multistabilen Wahrnehmung erfasst sind. Neurowissenschaftler des Max-Planck-Instituts für biologische Kybernetik und der Universität Tübingen haben eine umfassende Literaturanalyse zu Aspekten der multistabilen Wahrnehmung unternommen. In ihrer nun in der Fachzeitschrift Neuron veröffentlichten Studie stellen sie fest, dass diese Schaltungen von Wertvorstellungen wie dem emotionalen Gehalt eines Bildes bestimmt sind.

Die Max-Planck-Wissenschaftler Shervin Safavi und Peter Dayan stützen sich auf empirische Erkenntnisse und wissenschaftliche Konzepte mehrerer Jahrhunderte und interpretieren sie unter Blickwinkeln der Mathematik und Algorithmik neu. Eine altehrwürdige Idee von Herrmann von Helmholtz besagt, dass das Gehirn Impulse unserer Netzhaut im Kontext voreingestellter Mechanismen und vergleichbarer Wahrnehmungen interpretiere. Dieser Umstand jedoch würde eine immense rechnerische Belastung bedeuten, da das Gehirn eine überwältigende Fülle möglicher Situationen des Abgleichs unternehmen müsste; zugleich bleibt diese Ansicht statistisch herausfordernd, da die von unseren Augen weitergegebenen Informationen von einem bestimmten Blickpunkt heraus erfolgen und immer nur einen Bruchteil der realen Szenerie wiedergeben können.

Das Phänomen der multistabilen Wahrnehmung

Manchmal sind die Eingangssignale unserer Augen für das Gehirn so schwer einzuordnen, dass eine eindeutige Interpretation des Wahrgenommenen unmöglich bleibt. Safavi und Dayan nennen bekannte Beispiele, darunter den Necker-Würfel, eine zweidimensionale Darstellung eines Würfels, dessen Perspektive auf zwei unterschiedliche Arten interpretiert werden kann, nämlich entweder nach links oder rechts weisend. In diesen Fällen schaltet unser Gehirn anhand charakteristischer Muster zwischen möglichen Interpretationen um. Manchmal meinen wir, diese Wahrnehmungswechsel zu kontrollieren – um dann doch festzustellen, dass sie von unbewussten Prozessen dominiert sind.

"Das Phänomen der multistabilen Wahrnehmung ist eine einfache und nicht-invasive Möglichkeit, ein integrativeres Bild neuronaler Verknüpfungen zu erhalten. Wir vermuten, dass das Gehirn im Fall visueller Mehrdeutigkeiten das Gesehene als eine von Wertemustern bestimmte Handlungsentscheidung verarbeitet und sich für dominanteste Interpretation entscheidet. So wie sich ein Tier bei der Nahrungssuche aufgrund von Wertemerkmalen verfügbarer Nahrung zwischen verschiedenen Möglichkeiten entscheiden mag, wählen wir aufgrund eigener Wertemuster zwischen verschiedenen Interpretationen eines wahrgenommenen Bildes. Von Hirnarealen wie dem anterioren cingulären Kortex nimmt man übrigens an, dass er sowohl den Wechsel zwischen Verhaltensweisen wie auch verschiedene Interpretationen des Gesehenen moduliert", erklärt Shervin Safavi.

Das Gehirn entscheidet wertebasiert

Was aber bestimmt dann diesen inneren Wert? Safavi nennt als Beispiel ästhetische Merkmale, wie Schönheit, oder aber auch Informationswerte - die Bedeutung, die wir diesen Merkmalen in Bezug auf unser zukünftiges Handeln zuschreiben; dazu kommen besondere Bedingungen, mit denen bestimmte Interpretationen verknüpft sein können, zum Beispiel zu erwartende Belohnungen.

"Die multistabile Wahrnehmung eignet sich sehr gut, um die neuronalen Verarbeitungsschritte näher zu untersuchen. Sie wird wissenschaftlich schon sehr lange betrachtet und hat zu zahlreichen und unterschiedlichen Erkenntnissen geführt. Einsatzmöglichkeiten wurden auch im Zusammenhang mit psychiatrischen Erkrankungen untersucht: Zum Beispiel mit Schizophrenie, bei der Interpretationen des Gehirns fehleranfällig sein können, sowie mit Depressionen und Angstzuständen, bei denen bestimmte Wertmerkmale offenbar schwächer oder stärker ausgeprägt sind. Wir wollen nun feststellen, ob bestimmte Aspekte der multistabilen Wahrnehmung als nicht-invasives Instrument zum Verständnis psychiatrischer Funktionsstörungen genutzt werden könnten", fügt Peter Dayan hinzu.

Zusammenfassend hoffen die Autoren, dass ihr neuer Ansatz zu einem umfassenderen Verständnis des Phänomens der multistabilen Wahrnehmung beitragen wird. Durch Einbeziehung von Wahrnehmungs-, Entscheidungs- und Wertverarbeitungssystemen sollte ihre Perspektive den Neurowissenschaftlern helfen, ein klareres Bild von dem zu zeichnen, was wir als unser Bewusstsein verstehen, und auch ein neues Fenster zu Aspekten der Pathologie eröffnen.

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