Gamma-Rhythmen einfacher als gedacht?
Um bestimmte Hirnwellen zu erklären, muss es gar nicht kompliziert werden
Gamma-Rhythmen im Gehirn sind weder selbsterhaltend noch regelmäßig. Doch viele frühere Modelle gingen genau davon aus. ESI-Forschende zeigen nun, dass diese Rhythmen eigentlich durch einen ganz einfachen Mechanismus erklärt werden können.
Durch die Interaktion zwischen Tausenden bis Millionen von Neuronen erzeugt die Großhirnrinde dynamische Aktivitätsmuster auf vielen Ebenen: von der Kopfhaut über mesoskopische Feldpotentiale an der Hirnoberfläche bis hin zu den Spannungspotentialen innerhalb der Neuronen. So wie die Interaktion zwischen Teilchen bestimmte rhythmische Verhaltensweisen auf makroskopischer Ebene hervorrufen kann, beispielsweise Moleküle in einem Gas, können die Interaktionen zwischen Millionen einzelner Neuronen zu Netzwerkphänomenen führen, die bestimmte statistische Regelmäßigkeiten aufweisen.
Ein Beispiel dafür sind die rhythmischen Aktivitätsmuster um 30 bis 80 Hz (Gammafrequenz), die im visuellen Kortex beobachtet werden können, wenn Tiere und Probanden Reize mit hoher räumlicher Regelmäßigkeit sehen. Eine neue Arbeit von Forschenden des Ernst Strüngmann Instituts (ESI) für Neurowissenschaften wirft ein neues Licht darauf, wie diese Rhythmen aus grundlegenden Interaktionen zwischen hemmenden und erregenden Neuronen entstehen. ESI-Wissenschaftler Georgios Spyropoulos leitete die Studie.
Natürliche Rhythmen können sehr regelmäßig sein
Der Herzschlag, der Tag-Nacht-Rhythmus und die Erdrotation sind nur einige Beispiele für Rhythmen in der Natur, die manchmal sehr regelmäßig sind. In diesen Fällen können wir von selbsterhaltenden, autonomen Rhythmen sprechen, die durch eine äußere Kraft synchronisiert werden können. Man denke zum Beispiel an die Steuerung unseres Tag-Nacht-Rhythmus durch das Tageslicht oder des Herzens durch einen Schrittmacher. Die im Gehirn gefundenen Gamma-Rhythmen weisen jedoch eine große Variabilität in ihrer Ausprägung und Dauer auf. Sie haben möglicherweise auch andere Merkmale und funktionelle Eigenschaften als diese selbsterhaltenden, regelmäßigen Rhythmen (Oszillationen) aus den oben genannten Beispielen. Dennoch beruhen fast alle bisherigen Modelle dieser Gamma-Rhythmen auf Modellen von selbsterhaltenden Oszillatoren.
Georgios Spyropoulos und seine Co-Autoren und Autorinnen zeigen nun, dass sich die Eigenschaften des Gamma-Rhythmus sehr gut durch ein anderes Modell erklären lassen: durch einen linearen, gedämpften harmonischen Oszillator, der durch Rauschen angetrieben wird. In einem solchen System tritt quasi-oszillatorisches Verhalten auf aufgrund der Resonanz auf das Rauschen (ein nicht-rhythmischer Input). Gedämpfte harmonische Oszillatoren sind keine echten, selbsterhaltenden Oszillatoren, die Synchronisation zeigen oder angetrieben werden können.
Stellen wir uns einen Tischtennisball vor: Wenn man diesen vom Tisch stößt, also Kraft auf ihn ausübt, kann er sich zwar vorübergehend in einem bestimmten Frequenzbereich bewegen, aber nach und nach gibt er seine Energie wieder ab und kommt über kurz oder lang wieder zum Stillstand. In diesem Fall können wir uns das Hirnareal (oder einen Teil eines Hirnareals) als gedämpften harmonischen Oszillator vorstellen, der durch einige externe, nicht rhythmische Eingaben aus dem vorherigen Hirnareal angetrieben wird und ein quasi-periodisches Verhalten zeigt, weil er die Eingaben in einem bestimmten Frequenzbereich verstärkt. Diese Art von System arbeitet nicht von sich aus, sondern verstärkt lediglich die verrauschten Eingaben in einem bestimmten Frequenzbereich.
Ein einfaches und elegantes Modell
Die Autorinnen und Autoren analysieren viele der Merkmale, wie Amplitude und Dauer des Rhythmus variieren und liefern ein einfaches sowie elegantes Modell für viele Eigenschaften des Gamma-Rhythmus. Sie zeigen: Bestimmte starke Beziehungen, über die in der Vergangenheit berichtet wurde, wie eine Korrelation zwischen der momentanen Amplitude und Dauer des Gamma-Rhythmus, lassen sich durch einen viel einfacheren Mechanismus erklären als angenommen. So weisen sie beispielsweise nach, dass die Dauer des aktuellen und des nächsten Zyklus im Wesentlichen unkorreliert sind, was durch das rauschgesteuerte Verhalten des Oszillators erklärt werden kann. Außerdem erklären sie, dass Ausschläge entstehen, wenn die Amplituden eine Zeit lang hoch bleiben, da der Oszillator natürlich Zeit braucht, um sich zu entspannen.
Schließlich zeigen sie, dass die Amplitude und die Frequenz des Rhythmus, anders als zuvor angenommen, nur schwach korreliert sind. “Wir starteten dieses Projekt, indem wir versuchten, ähnliche statistische Eigenschaften zu finden, wie sie zuvor für den Hippocampus beschrieben wurden, dieses Mal allerdings im visuellen Kortex, auch V1 genannt, von Affen”, erklärt Georgios Spyropolous. “Doch als wir die gleiche Methode auf Rauschsignale anwandten, die keinen Rhythmus enthielten, beobachteten wir die gleichen Korrelationen. Wir mussten also viel Zeit darauf verwenden, neue Methoden zu entwickeln und zu testen, um die unmittelbaren Eigenschaften von Gehirnsignalen zu charakterisieren. Als wir diese Methoden schließlich anwendeten, reichte ein einfaches lineares Modell aus, um die verbleibenden Korrelationen zu erklären”. Obwohl die Autoren nur die Aktivität im Bereich V1 analysierten, glauben sie, dass ihr Modell möglicherweise quasi-rhythmisches Verhalten in vielen anderen Hirnbereichen oder bei anderen Spezies erklären kann.
“Gamma ist nur zu bestimmten Zeiten ein echter Rhythmus”
Der Erstautor und Leiter der ESI-Forschungsgruppe Martin Vinck erläutert einige Aspekte der funktionellen Konsequenzen der Arbeit: “Viele der konzeptionellen Theorien über Gamma-Rhythmen und Kommunikation basieren auf der Idee der Synchronisation und des Entrainments. Aber im Falle dieser linearen, gedämpften harmonischen Oszillatoren bleibt unklar, inwiefern diese Ideen und Konzepte einen Sinn ergeben. Außerdem beobachten wir ein hohes Maß an Variabilität von Zyklus zu Zyklus, was bedeutet, dass kleine Unterschiede in der Frequenz eines Rhythmus eine lange Integrationszeit benötigen würden, um entschlüsselt zu werden. Dies steht im Einklang mit den Arbeiten von Thomas Akam und Dimitri Kullmann. Schließlich ist der Gamma-‘Rhythmus’ nur während bestimmter Phasen ein echter ‘Rhythmus’, wenn die Amplitude rein zufällig hoch ist. Es gibt jedoch viele Zeiträume, in denen der Rhythmus verschwindet. Wären diese Rhythmen für die interareale Kommunikation notwendig, würde man ein System erwarten, das viele Variabilitäten aufweist. Ob es sich dabei um einen Fehler im System oder um ein Designmerkmal handelt, ist noch unklar.”
Klar hingegen ist, dass die Forschenden e einen neuen Standard für die Analyse von Rhythmen in der Hirnrinde und für das Verständnis ihrer Variabilität gesetzt haben. Ihre Arbeit stellt bestehende Vorstellungen von diesen Rhythmen und ihrer Funktion in Frage, kann aber auch den Weg ebnen zu neuen Theorien auf der Grundlage des von ihnen entwickelten Modells.