Ich sehe was, was du auch siehst
ESI-Forschende untersuchen, wie das Gehirn auf die Vorhersagbarkeit von natürlichen Bildern reagiert
Im primären visuellen Kortex feuern Neuronen besonders stark, wenn Vorhersagefehler auftreten. Und, anders als bisher angenommen, sind bei korrekten Vorhersagen Hirnwellen im Gammabereich besonders ausgeprägt.
Jeder, der sich schon mal auf eine wichtige Aufgabe konzentrieren musste, weiß, wie schwierig dies ist, wenn sich dabei um einen herum Leute unterhalten. Ganz besonders, wenn sie unnötig viel reden. Vor einem ähnlichen Problem steht der primäre visuelle Kortex, auch V1 genannt, ebenfalls immer wieder: Dort setzt das Aufblitzen eines Bildes auf der Netzhaut Millionen von Neuronen in Gang. Ihre Aufgabe ist es, die visuellen Informationen zu segmentieren und zu filtern, um eine genaue und nützliche Darstellung dessen zu erzeugen, was das Auge sieht. Dafür sprechen benachbarte Neuronen miteinander. Das kann redundant sein, wenn sie ähnliche Dinge sehen.
Der Hirnabschnitt V1 kann nicht um Ruhe bitten, so wie wir. Er hat aber Mechanismen, mit denen diese unnötigen Gespräche vermieden werden können. Einer dieser Mechanismen ist die prädiktive Kodierung. Dabei werden die Vorhersagen im Gehirn mit den tatsächlichen sensorischen Eingaben verglichen und nur die Vorhersagefehler an den nächst höheren Bereich des visuellen Kortex weitergegeben. Die Nervenzellen in V1 können also vorhersagen oder ergänzen, was ihre Nachbarn sagen wollen, weil sie die gleichen oder sehr ähnlichen Teile eines Bildes sehen. Somit müssen sich nicht alle gleichzeitig zu Wort melden. Und das Gehirn kann sich auf die wichtigen Dinge konzentrieren.
Tests mit natürlichen Objekten
Forschende des Ernst Strüngmann Institute (ESI) for Neuroscience haben nun gezeigt, dass in diesem Zusammenhang Synchronisation und Feuerungsrate von Nervenzellen wichtige, wenngleich unterschiedliche Rolle spielen. Ihre Ergebnisse haben sie jüngst in der renommierten Fachzeitschrift Neuron veröffentlicht.
Die Neurowissenschaftler und Neurowissenschaftlerinnen zeigten drei Makaken Fotos von Blumen und Bäumen. Aber auch von Gebäuden und weiteren natürlichen oder menschgemachten Objekten. Dabei maßen sie deren Hirnaktivität im primären visuellen Kortex. Bei natürlichen Reizen können die Informationen für die rezeptiven Felder von V1 oft durch den Kontext vorhergesagt werden. Zum Beispiel, dass bei einem Baumstamm die Umrisslinie, selbst wenn sie zum Teil verdeckt ist, wahrscheinlich senkrecht weiterläuft. Oder bei einem Apfel leicht gebogen. Um die Vorhersagbarkeit der Bildmerkmale messen zu können, haben die Forschenden ein künstliches neuronales Netzwerk programmiert.
Neuronen feuern bei Vorhersagefehlern
“Wir haben beobachtet, dass Neuronen besonders stark feuern, wenn Vorhersagefehler auftreten. Mit Hilfe von künstlichen neuronalen Netzen konnten wir genau bestimmen, welche Art von Vorhersagefehlern die V1-Neuronen interessiert”, sagt Cem Uran. Er ist Doktorand in der Forschungsgruppe von Martin Vinck und einer der Erstautoren der Studie, zusammen mit ESI-Wissenschaftlerin Alina Peter. “Im Prinzip könnten die V1-Neuronen alle möglichen Merkmale eines Bildes vorhersagen, wie zum Beispiel die genaue Pixelstruktur“, führt Cem Uran weiter aus. „Es hat sich jedoch herausgestellt, dass sie sich hauptsächlich um die Vorhersage von Merkmalen kümmern, die für die Objekterkennung wichtig sind. Diese Art der Vorhersagbarkeit bestimmt die Wichtigkeit von Objekten in einem Bild, d. h. worauf Menschen in einem Bild achten würden.”
Die Forscher beleuchten auch die seit langem bestehende Frage nach der Funktion der Gehirnwellen im Gamma-Frequenzbereich. Es gibt viele Theorien zu diesem Thema. Martin Vinck und sein Kollege Conrado A. Bosman haben in einem Artikel aus dem Jahr 2016 vorgeschlagen, dass Gamma-Gehirnwellen auftreten, wenn visuelle Eingaben gut vorhergesagt werden können. Andere Forschende vertreten die gegenteilige Meinung. “In der Tat sind Gamma-Gehirnwellen besonders stark, wenn die Vorhersagen korrekt sind”, geht Cem Uran ins Detail seiner Arbeit. “Überraschenderweise waren sie am stärksten bei Bildbereichen mit geringer Bedeutung, die viele redundante Informationen enthielten. Wir sind stolz behaupten zu können, dass dieses Modell die Amplitude der Gamma-Oszillationen besser vorhersagt als alle bisherigen Modelle. Mit diesen Ergebnissen sind wir der Antwort auf die Frage, wie das Gehirn Informationen verarbeitet, einen Schritt näher gekommen.”
Gehirn spielt Vorhersagespiel
Forschungsgruppenleiter Martin Vinck betont, dass diese Ergebnisse wichtige Rückschlüsse auf die Funktion von Gamma-Gehirnwellen zuließen. Sie passten gut zu neuen Erkenntnissen seiner Forschungsgruppe, dass diese Wellen die Feedforward-Kommunikation zu höheren Bereichen eher unterdrücken als zu fördern: “Wir können uns Gamma-Oszillationen als einen extremen Zustand vorstellen, der eintritt, wenn alle Informationen in einem Bild redundant sind und V1 herausfinden kann, was in dem Bild passiert, ohne diese Informationen an höhere Bereiche weitergeben zu müssen. Wenn jedoch etwas auffälliges und nicht vorhergesagtes in dem Bild vorhanden ist, brechen diese Gamma-Wellen zusammen und die Neuronen erhöhen ihre Feuerungsrate, was zu einer Kommunikation mit höheren Hirnbereichen führt.”
Letztlich könnten diese Ergebnisse wichtige Aussagen darüber machen, wie das Gehirn auf selbstgesteuerte Weise aus sensorischen Daten lernt. Die Forschenden vermuten, dass das Gehirn kontinuierlich aus den empfangenen Sinneseindrücken lernen kann, indem es ein Vorhersagespiel spielt, bei dem es seine Vorhersagen mit den eingehenden visuellen Eingaben vergleicht. Das hier beschriebene künstliche Netzwerk könnte nachahmen, wie das Gehirn dies umsetzt. Dies wiederum könnte zu einer grundlegenden Theorie des Lernens im visuellen Kortex führen.