„Putin missbraucht das Völkerrecht“
Der russische Angriff auf die Ukraine verstößt klar gegen einen der wichtigsten völkerrechtlichen Grundsätze der Vereinten Nationen: das Gewaltverbot. Zudem brechen russische Truppen in der Ukraine immer wieder Regeln des humanitären Völkerrechts. Doch welche Möglichkeiten gibt es, die Verantwortlichen vor Gericht zu bringen? Im Interview erklärt Christian Marxsen vom Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, welche Gerichte zuständig sind und welche Wirkung eine Verurteilung der Täter haben kann.
Herr Dr. Marxsen, wer kann Putin für seinen Angriffskrieg, den das Völkerrecht ja verbietet, juristisch zur Rechenschaft ziehen?
Christian Marxsen: Grundsätzlich wäre die erste Adresse dafür der UN-Sicherheitsrat, der wäre dafür zuständig, das Verhalten Russlands zu verurteilen. Das ist, wie wir wissen, unmöglich, weil Russland dort ein Vetorecht hat. Stattdessen hat die UN-Generalversammlung den Krieg Russlands mit einer großen Mehrheit von 141 Staaten verurteilt. Das ist für die internationale Bewertung des ganzen Vorgangs sehr wichtig. Damit ist unstrittig, dass das ein völkerrechtswidriger Krieg ist.
Welche Folgen hat das?
Keine direkten: Nur der Sicherheitsrat könnte Sanktionen aussprechen, die Generalversammlung dagegen nicht. Damit bleibt es bei einer symbolischen Verurteilung, die wichtig ist, aber eben keine direkten Folgen hat.
Viele träumen davon, Putin irgendwann einmal vor ein ordentliches Gericht stellen zu können. Welches Gericht wäre für einen solchen Kriegsverbrecherprozess zuständig?
Grundsätzlich ist das beim Internationalen Strafgerichtshof denkbar, der ja auch schon Ermittlungen über die Situation in der Ukraine aufgenommen hat. Ein Verfahren gegen Putin ist derzeit nicht wahrscheinlich, weil der Internationale Strafgerichtshof keinen Zugriff auf Putin hat. Die Ermittlungen sind trotzdem ein starkes Signal.
Allerdings sind Russland und die Ukraine nicht dem Römischen Statut beigetreten, das die Grundlage für den Internationalen Strafgerichtshof bildet.
Ja das stimmt. Allerdings hat sich die Ukraine der Rechtsprechung dieses Gerichts unterworfen. Das heißt, der Internationale Strafgerichtshof ist für Taten zuständig, die seit 2013 auf dem Territorium der Ukraine begangen werden. Wenn jetzt also russische Truppen in der Ukraine Kriegsverbrechen begehen, dann kann das verfolgt werden. Ebenso könnten Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit verfolgt werden. Der Angriffskrieg, also das Verbrechen der Aggression allerdings nicht - da erfüllt der Status der Ukraine die Voraussetzungen nicht.
Der Internationale Gerichtshof hat Russland gerade aufgefordert, den Krieg in der Ukraine zu beenden. Was ist der Hintergrund dieser Aufforderung?
Dieses Verfahren wurde von der Ukraine eingeleitet und es geht um die Anwendung der Anti-Völkermord-Konvention. Das ist ein völkerrechtlicher Vertrag, den auch Russland und die Ukraine unterzeichnet haben. Die Ukraine möchte in diesem Verfahren festgestellt wissen, dass sich Russland bei seinem Einmarsch zu Unrecht darauf beruft, dass in der Ukraine ein Völkermord gegen die russische Bevölkerung in der Ostukraine stattfinde. Es geht also darum, den Missbrauch des Genozidvorwurfs zu verhindern. Nun hat das Gericht in einem Eilverfahren Russland aufgefordert, die Kampfhandlungen sofort einzustellen.
Welche Chancen gibt es, dass diese Aufforderung gehört wird?
Diese Aufforderung ist ein starkes Signal und wird international gehört. Es ist zwar nicht wahrscheinlich, dass Russland ihr unmittelbar Folge leistet, aber die Entscheidung zeigt, dass Russland international isoliert ist.
Ist es nicht merkwürdig, dass Putin, auch wenn er dagegen verstößt, überhaupt versucht das Völkerrecht als Rechtfertigung für sein Vorgehen anzuführen?
Er ist da nicht ganz eindeutig, man kann vielleicht sagen, zum Glück. Putins Sprache offenbart erst einmal eine zynische Missachtung des Völkerrechts, weil er Gründe für seinen Angriff anführt, die ganz offensichtlich nicht wahr sind. Da missbraucht er das Völkerrecht. Gleichzeitig will er offenbar den Angriff der eigenen Bevölkerung als etwas verkaufen, das durch internationalen Normen gedeckt ist.
Russland hat gerade seinen Austritt aus dem Europarat angekündigt, kurz darauf hat der Europarat dem Land die Mitgliedschaft mit sofortiger Wirkung entzogen. Damit ist Russland nun auch vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ausgeschlossen. Welche Folgen hat das?
Bis dato war Russland auch im gegenwärtigen Konflikt mit der Ukraine an die Europäische Menschenrechtskonvention gebunden. Allerdings hatte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte seine Zuständigkeit bei noch laufenden bewaffneten Konflikten sehr limitiert – zuletzt beim Krieg Russlands gegen Georgien. Dennoch wäre die Mitgliedschaft ein gewisser Hebel gewesen, um bei einem entsprechenden Vorgehen Russlands menschenrechtlich zu argumentieren und das Land vor ein internationales Gericht zu bringen. Mit dem Ausschluss Russlands aus dem Europarat verschwindet diese Möglichkeit.
Allerdings hat Russland in der Vergangenheit bereits Urteile dieses Gerichts ignoriert.
Ja, das stimmt. Deshalb sollte man solche Verfahren nicht allein mit Blick auf die Umsetzung von Urteilen her denken, sondern beachten, dass durch einen solchen Prozess Menschenrechtsverstöße aufgearbeitet und damit letztlich erst öffentlich werden.
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger und Gerhart Baum von der FDP haben bei der Generalbundesanwaltschaft Strafanzeige gegen Putin persönlich eingereicht. Hat so etwas Chancen?
Nach dem Völkerstrafgesetzbuch, kann auch Deutschland als unbeteiligter Staat Verstöße gegen Völkermord, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit verfolgen. Allerdings kann Putin derzeit nicht vor ein deutsches Gericht gestellt werden, weil er als Staatsoberhaupt Immunität genießt. Aber gegen andere Politiker oder Militärs, die an diesem Konflikt beteiligt sind, könnte so ein Verfahren auf den Weg gebracht werden.
Alles in allem, wie groß ist die Chance, dass Putin und die russische Führung sich irgendwann einmal vor einem Gericht für diesen Krieg verantworten müssen?
Ich finde man darf nicht außer Acht lassen, dass Russland jetzt schon über massive Sanktionen zur Rechenschaft gezogen wird. Das ist im Moment das wirksamste völkerrechtliche Instrument, um dem Aggressor Einhalt zu gebieten. Dass es irgendwann einmal ein Verfahren direkt gegen Putin gibt, halte ich nicht für sehr wahrscheinlich. Aber das ist vielleicht auch nicht die richtige Erwartungshaltung. Im Moment kann man ein solches Verfahren höchstens vorbereiten, indem man Fakten sichert. Wenn dann hoffentlich irgendwann eine Befriedung eingetreten ist, ist das wichtig. Denn es ist die Voraussetzung dafür, dass die für den Krieg Verantwortlichen damit rechnen müssen, außerhalb Russlands völkerrechtlich verfolgt zu werden. Ich gebe zu, das ist eine langfristige Perspektive. Aber eine sehr wichtige.
Interview: Benno Stieber
Internationale Gerichte, die für Völkerrecht zuständig sind
Internationaler Gerichtshof
Der Internationale Gerichtshof ist das wichtigste Gericht der Vereinten Nationen und hat seinen Sitz in Den Haag. Dort werden ausschließlich Streitigkeiten zwischen Staaten verhandelt. Zudem erstellt das Gericht Gutachten zu völkerrechtlichen Fragen für UN-Gremien und -Organisationen.
Internationaler Strafgerichtshof
Der Internationale Strafgerichtshof (IGH) hat seinen Sitz ebenfalls in Den Haag, besteht aber unabhängig von der UNO. Seine Zuständigkeit umfasst die Kernverbrechen des Völkerstrafrechts: Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Verbrechen der Aggression und Kriegsverbrechen. Der IGH kann nur über Individuen und nicht über Staaten urteilen. Allerdings erkennen wichtige Länder wie Russland, die USA und China den Gerichtshof nicht an.
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) gehört zum Europarat, einer europäischen Organisation mit 46 Mitgliedsstaaten und Sitz in Straßburg. Grundlage für die Rechtsprechung des EGMR ist die Europäische Menschenrechtskonvention. Natürliche oder juristische Personen können vor dem Gerichtshof gegen einen Mitgliedsstaat klagen, wenn sie ihre Rechte verletzt sehen.