Selten mutig

5. Juli 2021

Zivilcourage ist in einer freiheitlichen Gesellschaft unersetzlich. Doch im Ernstfall wagen es nur wenige, die Opfer von Verbrechen zu schützen oder sich aktiv gegen Hass und Rassismus zu stellen. Am Max-Planck-Institut zur Erforschung von Gemeinschaftsgütern untersucht die Psychologin Anna Baumert Anlässe und Bedingungen für Zivilcourage – eine work in progress.
 

Text: Martin Tschechne

Mal angenommen, ein junger Mensch betritt ein Forschungslabor. Kahle Wände, Deckenlampen, Seminar­tische. Freundliche Mitarbeiter des Instituts erläutern den Ablauf der Studie, nehmen Daten zur Person auf und teilen Fragebogen aus. Dann erkundigen sie sich, ob der Besucher zum Dank für Zeit und Mühe ein ­Honorar annehmen möchte oder ob er oder sie zur Gruppe derer gehört, die sich die Teilnahme für ihr Studium anrechnen lassen können. Nein, antwortet der Gefragte, ob Mann oder Frau, keine Versuchspersonenstunden; ich nehme das Honorar.

Mal angenommen, der Proband hätte sich also durch einen Stapel von Testfragen gearbeitet, in einer zweiten Sitzung zwei Wochen später das Hemd aus der Hose gezupft und einen Gurt umgelegt, um die Herzfrequenz zu ermitteln. Er oder sie hätte auf Anweisung der Forscher einen Text auswendig gelernt, sich abfragen lassen und bereitwillig Auskunft über die eigenen Gefühle gegeben – nervös, ängstlich, gelangweilt, jeweils einzustufen auf einer Skala von null bis fünf – und würde nun irgendwo auf dem Weg durch die Versuchsanordnung Zeuge eines Gesprächs zwischen zwei Mitarbeitern des Projekts. Geflüstert nur, die Köpfe eng beieinander, ein knapper Vorschlag, aber unüberhörbar: „Einige unserer Probanden lassen sich die Mitarbeit doch für ihr Studium anrechnen; wenn wir auf deren Namen auch eine Honorarquittung aus­stellen, dann könnten wir das Geld selbst einstreichen, und niemand merkt etwas ...“ – Wie würde so ein Teilnehmer der Studie wohl reagieren? Mit Schock? Empörung? Betretenem Schweigen?

Anna Baumert hat ein paar sehr differenzierte, differenzierende Hypothesen entwickelt. Die Reaktion hänge ab von der Persönlichkeit der Versuchsperson, sagt die Psychologin am Bonner Max Planck-Institut zur Erforschung von Gemeinschaftsgütern. Von Gegenwart oder Abwesenheit anderer. Von den Erfahrungen im Umgang mit Autoritäten. Von der Erwartung, mit eigener Initiative auch etwas bewirken zu können oder doch eher den Einflüssen anderer ausgeliefert zu sein. Ein System von Konzepten hat die Wissenschaftlerin im Lauf ihrer Forschungsarbeit mit vielen Kolleginnen und Kollegen entwickelt, einen Leitfaden zur Unterscheidung von Aufmerksamkeitstypen – ob einer die Welt also eher aus der Perspektive dessen sieht, dem etwas widerfährt, oder dessen, der den Nutzen hat. Ob er oder sie die Situation nur von außen beobachtet und analysiert oder sich selbst eher als Akteur erlebt. Mit Stolz und Genugtuung oder mit Schuld­gefühl und Scham.

Sind Menschen, die eingreifen anders als andere?

Es geht um Zivilcourage. Um das Eintreten für die Interessen anderer, auch wenn die ­eigenen dadurch verletzt werden. Um den Entschluss des Whistleblowers, geheime Daten und Praktiken zum Wohl der Gemeinschaft an die Öffentlichkeit zu bringen, selbst wenn dafür Gefängnis droht. Um den Widerstand gegen Diskriminierung und Vorurteil, vor allem, wenn andere davon betroffen sind – von Rassismus, Sexismus oder Hass. Aufstehen in der U-Bahn, um den Pöbler in die Schranken zu weisen. Einschreiten, wenn einer bedrängt wird. Oder aufmucken, wenn viele das Gemeinschaftsgut Gesundheit verteidigen und wenige trotzdem ihre Party feiern. Anna Baumert hat Menschen befragt, die für ihren Mut mit Verdienstkreuzen ausgezeichnet worden waren. Eine Frau hatte eine Gruppe von Schlägern auseinanderge­trieben, die auf einen am Boden Liegenden eintraten. Einer war einem Einbrecher aus dem Nachbarhaus hinterhergerannt, das Handy so lange am Ohr, bis die Polizei zur Stelle war. Sind solche Menschen anders als andere? Ja, sagt die Psychologin. Sie ärgern sich heftiger, vielleicht schneller. Und sie haben möglicherweise eine geringere Toleranz gegenüber ungeklärten Situationen. „Ich habe die Vermutung, dass Menschen, die sensibel beobachten, auch eher dazu neigen, sich Klarheit zu verschaffen. Um dann entschiedener einzugreifen. Dieser Umgang mit Ungewissheit, Mehrdeutigkeit – der interessiert mich total!“

Seit Jahrzehnten gilt der Fall Kitty Genovese als Lehrbuchbeispiel für das Versagen sämtlicher Tugenden in einer Gemeinschaft. Am 13. März 1964 war die junge Frau vor ihrem Haus im New Yorker Stadtteil Queens niedergestochen, vergewaltigt und ermordet worden. 38 Menschen in der unmittelbaren Nachbarschaft, so ermittelte ein Reporter der New York Times, waren Zeugen der Tat. Die Schreie der Frau nachts um Viertel nach drei hatten sie geweckt; sie hatten am Fenster gestanden, gezögert und abgewartet. Fast eine Stunde lang. Einer hatte sein Radio lauter gedreht, um den Schrecken zu übertönen. Eine war schließlich doch vor die Tür gerannt, um die Sterbende zu halten. Aber keiner, der ihr wirklich zu Hilfe kam.

Natürlich kennt Baumert die Literatur zu dem Fall; sie gehört zum Standard des Fachs. Die Sozialpsycho­logen Bibb Latané und John M. Darley etwa hatten wenige Jahre später eine ganze Forschungstradition mit der Frage begründet, wann und warum Menschen tatenlos danebenstehen. „Da gibt es klare Belege“, fasst die Forscherin zusammen, „dass die Anwesenheit von inaktiven anderen dazu führen kann, dass man selber auch nicht einschreitet.“ Und doch bleibt sie skeptisch. Zu anekdotisch seien die Belege in vielen der Studien, zu spekulativ die häufig eher zufällig gesammelten Erklärungen. „Wir müssen selbst einen Kontext definieren“, begründet Baumert ihren Ansatz. „Denn nur in einer kontrollierten Studie lassen sich relevante Persönlichkeitseigenschaften erfassen und die Probanden parallel zum Geschehen befragen. Es geht um Kausalität.“

Vier mögliche Persönlichkeitsmerkmale

Opfer, Beobachter, Täter, Nutznießer: Vier Perspektiven in der alltäglichen Wahrnehmung von Unrecht hat die Psychologin in ihren Studien identifiziert; aus jeder entwickelt sich eine eigene Sensibilität, eine Disposition, den Herausforderungen an die Moral der Gemeinschaft entgegenzutreten. Sie sind Bedingungen für zivilcouragiertes Handeln – oder für Untätigkeit. Opfersensibilität etwa, erstens, bildet sich heraus, wo einer Ungerechtigkeit am eigenen Leib erlebt. Kann sein, dass sich daraus Wut und Zorn entwickeln. Oder aber Zögerlichkeit, Misstrauen, eine Tendenz zum Rückzug. „Plausibel ist beides“, bestätigt Baumert. „Und beides haben wir in unseren Studien beobachtet.“ In Chile etwa, so hat sie in einem Projekt mit südamerikanischen Wissenschaftlern ermittelt, waren es gerade die Opfer von Ausbeutung und Unterdrückung, die sich in der Protestbewegung durch zornige Entschlossenheit hervortaten.

Und warum sollten es nicht auch, zweitens, unbeteiligte Beobachter sein, die den ungerechten Charakter einer Konstellation besonders scharf erkennen? Drittens Akteure, die gerade aus der Innensicht ihres Verhaltens eine besondere Empathie entwickeln? Oder viertens Privilegierte, Nutznießer ohne eigenes Zutun, die sich ihrer Privilegien bewusst werden und sie infrage stellen? „Doch, das gibt es“, sagt Baumert und lacht. „Denken Sie nur an den alten weißen Mann, der fordert: Wir müssen etwas für die Frauenrechte tun! Vielleicht sollte es ein paar mehr davon geben.“

Was die Forscherin sammelt und in empirischen Studien seziert, sind Kontexte und Narrative, die das Erleben beeinflussen und eine Interpretation stimulieren. Sie hat Studierende befragt und sich gewundert, dass deren Gespür für Ungerechtigkeit nach ihrem Eintritt ins Studium eher abzunehmen scheint. Bis ihr klar wurde, dass sich das Leben der jungen Leute ja gerade in dieser Hinsicht tatsächlich geändert hatte: Die neue Situation war weniger geregelt, freier und lockerer, zumindest im Vergleich zu Elternhaus und Schule, bot also ganz einfach weniger Anlass, im engeren Umfeld so etwas wie Ungerechtigkeit zu erleben. Baumert erkannte, dass eine Analyse der komplexen Bedingungen ebenso komplexe Strategien erfordert.

Ihre Studie arrangierte die Wissenschaftlerin also wie ein geheimes Komplott: mit einer umfangreichen Batterie von psychologischen Tests, die sie detailliert auswertete, und mit der Aufgabe, einen Text zu lernen, wobei das Resultat für ihr Thema ohne Belang war. Ein Element der Tarnung. Mit der Aufzeichnung physiolo­gischer Werte, deren Ausschlagen die Schockwirkung ihrer Inszenierung bestätigen könnte. Und mit Mitarbeitern, die darauf zu achten hatten, dass die echten Probanden auch wirklich mitbekamen, was sie einander scheinbar heimlich zuflüsterten. Das ganze Experiment war angelegt, die Teilnehmer zu täuschen. Zur Beruhigung: Hinterher wurde alles aufgeklärt.

Die feinkörnigen Resultate der Tiefbohrung blieben aus. „Es ist so“, fasst Baumert zusammen, „dass von unseren vier Persönlichkeitsmerkmalen eigentlich kein einziges wirklich gut und erwartungsgemäß vorhersagt, wer eingreift und wer nicht.“ Entmutigen lässt sie sich trotzdem nicht. Eine wirklich funktionale Analyse moralgeleiteten Handelns braucht vielleicht noch engeren Bezug zum Alltag. Einen noch konsequenter nachgezeichneten Pfad zwischen dem Erkennen einer Kon­stellation und dem Entschluss, dagegen aufzustehen. Vielleicht noch breitere Kooperation. „Was ich sehr interessant fände, wäre eine Zusammenarbeit mit Entwicklungspsychologen“, gesteht die Persönlichkeitsforscherin. „Hat sich leider noch nicht ergeben.“

Jeder Vierte erhob Einspruch

Immerhin: Der Faktor Ärger hat sich bestätigt. Wer sich ärgert, der macht auch den Mund auf. Die Emotion werde ausgelöst, so führt die Psychologin aus, wenn Ziele frustriert oder Werte verletzt werden. Die Signale für die Beobachter waren ja deutlich genug. Und immerhin ein Viertel der Probanden empfand solchen Ärger und erhob Einspruch gegen den vermeintlichen Betrugsversuch, die meisten spontan, gleich bei den Mitarbeitern, die ihnen die böse Absicht vorgespielt hatten. „Das ist das, was man in solchen Studien findet“, sagt Baumert. „25 Prozent sagen was, die anderen sagen nichts.“ Wo waren sie, als Kitty Genovese ermordet wurde? Wo sind sie, wenn Vandalismus wütet, Fremde oder Frauen bedroht, Kinder misshandelt und vernachlässigt werden, wenn Landräte ihre Familien an der Warteschlange vorbei zum Impfen schleusen oder Querdenker anderen die Schutzmaske vom Gesicht reißen? Wer Zeitung liest, der kann es beurteilen: Im wirklichen Leben wären 25 Prozent eine bemerkenswert gute Quote.

Doch da sieht die Forscherin ihren Möglichkeiten Grenzen gesetzt. Der Aufwand sei unumgänglich, sagt sie. Das Labor, die Inszenierung – „anders lassen sich psychologische Unterschiede und Dispositionen nicht erfassen“. Ganz zu schweigen von Blutdruck oder Atemfrequenz. Aber wie realistisch darf der Schock sein, den die Wissenschaft ihren Probanden zumutet? Wo liegen die ethischen Grenzen zwischen Neugier und Verantwortung? Die Forschung steckt in einem Dilemma. Anna Baumert hat es ausgemessen: Einer Gruppe von Teilnehmern ihrer Studie führte sie den Betrugsversuch nur als Videoaufzeichnung vor, einer anderen beschrieb sie die Situation in einem schrift­lichen Text. Und siehe da: Alle zeigten sich empört. Die Sensiblen, die Zornigen, die Engagierten, die Ängst­lichen, die Indifferenten – alle stimmten ein in den Chor: Ja, dagegen würden wir einschreiten! Und zwar sofort und sehr entschieden! Gratismut, stellt Baumert klar. „Man kann hypothetische Fragen nicht zur Pro­gnose von Verhalten verwenden. Was sie verraten, ist, wie einer sich selbst sieht. Wie einer sein möchte.“

Ein Mythos veränderte die Realität

Der Fall Kitty Genovese verdient noch einen Nachtrag. Am 27. März 1964, zwei Wochen nach der Tat, brachte die New York Times einen Artikel, der die Umstände erst zum gesellschaftlichen Phänomen erhob. „38 sahen ­einen Mord, und keiner rief die Polizei“, lautete die Schlagzeile. Die öffentliche Empörung war also beabsichtigt – ihre Nachhaltigkeit konnte niemand ahnen. Die Wissenschaft nahm das Thema auf, Psychologen und Soziologen, bald auch Städteplaner, Architekten, Politikberater. Der Mord, so ihr Befund, bestätige die Entfremdung, die Anonymität des Lebens im Moloch einer Großstadt, die Überforderung durch Enge, Lärm und soziale Spannungen, in manchen Studien gar die Grenzen der Wahrnehmung: daneben stehen und nichts sehen.

Erst 2015 deckte der Regisseur James Solomon in seiner Dokumentation The Witness auf, wie der nächtliche Mord von Anfang an zu einem Mythos stilisiert worden war, zum Narrativ einer kalten und herzlosen Stadt, einer kalten und herzlosen Gesellschaft. Ein journa­listisches Desaster: Der Reporter von damals hatte ­gestanden, dass es doch nicht ganz so viele Zeugen gewesen seien, vielleicht zwölf, vielleicht auch nur zwei, und kein einziger konnte den ganzen Tathergang verfolgen. Ein Jahr später distanzierte sich auch die New York Times von dem Artikel. Die Fragen aber, die der Fall aufgeworfen hat, sind real. Ebenso sind es die Forschungsprojekte, die das Phänomen aufgegriffen und untersucht haben. Anna Baumert erkundet weiterhin die Bedingungen von produktivem Ärger und moralischer Aufmerksamkeit. Zugleich arbeitet sie mit Informatikern an der Frage, wie der Hetze im Internet ihre verheerende Wirkung genommen werden könnte. Mit couragierter Gegenrede? Mit Zensur? Der Fall Kitty Genovese hat eine Wirklichkeit abgebildet, sicherlich verzerrt, aber er hat auch eine Wirklichkeit geschaffen. Vier Jahre nach dem Mord wurde in den USA die Telefonnummer 911 landesweit als Notruf ­geschaltet.

Auf den Punkt gebracht

Die Bereitschaft von Menschen zur Zivilcourage lässt sich nur schwer unter kontrollierten Bedingungen messen.

Mithilfe von Persönlichkeitsmerkmalen lassen sich keine klaren Voraussagen treffen.

Wer sich schneller oder heftiger ärgert als andere, handelt eher zivilcouragiert.

 

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