Wie das Gehirn sich selbst reguliert
Internationales Forschungsteam zeigt, wie neuronale Schaltkreise ein Gleichgewicht zwischen Erregung und Hemmung erreichen
Ein Forscherteam aus Tübingen und Israel hat entschlüsselt, wie Hirnstrukturen auch unter ungewöhnlichen Bedingungen ihre Funktion und eine stabile Dynamik aufrechterhalten können. Die Ergebnisse könnten helfen, Krankheiten wie Epilepsie und Autismus besser zu verstehen und zu behandeln. Die Studie wurde im Fachmagazin PNAS (Proceedings of the National Academy of Sciences) veröffentlicht.
Die Neuronen in unserem Gehirn sind über Synapsen miteinander verbunden und bilden kleine Funktionseinheiten, neuronale Schaltkreise. Man unterscheidet zwischen erregenden Neuronen und hemmenden Neuronen. Erregende Neuronen senden über Signale Informationen an ein zweites Neuron und veranlassen dieses, weitere Signale zu feuern bzw. im neuronalen Schaltkreis zu versenden. Hemmende Neuronen mit der entgegengesetzten Aufgabe sind ebenso wichtig für die Funktionalität unseres Gehirns: Sie verringern die Wahrscheinlichkeit, dass mit ihnen verbundene Neuronen Signale an andere senden.
Das Zusammenspiel von Erregung und Hemmung ist entscheidend für die normale Funktionalität von neuronalen Netzwerken. Seine Dysregulation wird mit vielen neurologischen und psychiatrischen Störungen in Verbindung gebracht, darunter Epilepsie, Alzheimer und Autismus-Spektrum-Störungen.
Von Zellkulturen im Labor ...
Interessanterweise bleibt der Anteil der hemmenden Neuronen an allen Neuronen in verschiedenen Hirnstrukturen (wie dem Neokortex oder dem Hippocampus) während der gesamten Lebenszeit eines Individuums bei 15-30 Prozent konstant. „Das hat uns neugierig gemacht: Wie wichtig ist dieser bestimmte Anteil?“, erinnert sich Anna Levina, Forscherin am Institut für Informatik der Universität Tübingen und am Max-Planck-Institut für biologische Kybernetik. „Können neuronale Schaltkreise mit einem anderen Verhältnis von erregenden und hemmenden Neuronen noch normal funktionieren?“
Kolleginnen und Kollegen Levinas am Weizmann Institute of Science in Rehovot (Israel) entwickelten ein neuartiges Experiment, um diese Fragen zu beantworten. Sie züchteten Kulturen, die unterschiedliche, sogar extreme Verhältnisse von erregenden und hemmenden Neuronen enthielten. Anschließend maßen sie die Aktivität dieser künstlich angelegten Hirngewebe.
„Wir waren überrascht, dass Netzwerke mit verschiedenen Verhältnissen von erregenden und hemmenden Neuronen aktiv blieben, auch wenn diese Verhältnisse sehr weit von den natürlichen Bedingungen entfernt waren“, sagt Levinas Doktorand Oleg Vinogradov. „Ihre Aktivität ändert sich nicht dramatisch, solange der Anteil der hemmenden Neuronen irgendwo im Bereich von 10 bis zu 90 Prozent bleibt.“ Es scheint, dass die neuronalen Strukturen einen Weg haben, ihre ungewöhnliche Zusammensetzung zu kompensieren, um stabil und funktionell zu bleiben.
... zu einem theoretischen Verständnis
Doch mit welchem Mechanismus passt sich das Hirngewebe an diese unterschiedlichen Bedingungen an? Das Forschungsteam hat die Theorie, dass Netzwerke dies bewerkstelligen, indem sie die Anzahl der Verbindungen anpassen: Gibt es wenige hemmende Neuronen, müssen diese eine größere Rolle übernehmen, indem sie mehr Synapsen mit den anderen Neuronen bilden. Umgekehrt gilt: Ist der Anteil der hemmenden Neuronen groß, müssen die erregenden Neuronen dies ausgleichen, indem sie mehr Verbindungen aufbauen.
Mit dem theoretischen Modell der Tübinger Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler lassen sich die experimentellen Befunde ihrer Kollegen in Rehovot erklären und die Mechanismen zeigen, mit denen die Dynamik in einem Gehirn stabil bleibt. Die Ergebnisse können zudem das Verständnis dafür verbessern, wie das Gleichgewicht zwischen Erregung und Hemmung in lebenden neuronalen Netzwerken erhalten bleibt und wo es versagt. Auf lange Sicht könnte dies auch im aufstrebenden Feld der Präzisionsmedizin nützlich sein: Aus normalen Körperzellen gewonnene Stammzellen könnten verwendet werden, um neuronale Kulturen zu generieren, mithilfe derer man Mechanismen neuropsychiatrischer Störungen sowie neuartige Medikamente finden kann.