„Wir haben gelernt, Szenarien für die Zukunft zu entwerfen“
Alexandra Kemmerer über die Mitwirkung des Max-Planck-Instituts für Völkerrecht am Drehbuch für „Ökozid“
Der Spielfilm Ökozid, der am 18. November 2020 in der ARD Premiere hatte, ist ein Science Fiction der anderen Art: Es geht nicht um Androiden oder die Eroberung des Weltraums, sondern um die juristische Aufarbeitung der Klimakrise im gar nicht so fernen Jahr 2034. Für das Drehbuch hat das Autorenduo Jutta Doberstein und Andres Veiel Expertise am Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht eingeholt. Alexandra Kemmerer, wissenschaftliche Referentin und Koordinatorin am Institut, erzählt von der ungewöhnlichen Zusammenarbeit.
Im Film verklagen 31 Staaten des globalen Südens die Bundesrepublik vor dem Internationalen Gerichtshof, weil Deutschland zu wenig gegen den Klimawandel getan hat. Wie realistisch ist so ein Szenario?
Ein Spielfilm muss natürlich immer einen Kompromiss eingehen zwischen den realen Gegebenheiten und einer Geschichte, die für das Publikum spannend und verständlich ist. Im Großen und Ganzen ist es Jutta Doberstein und Andres Veiel aber trotz der nötigen Komplexitätsreduzierung sehr gut gelungen, juristische Grundprinzipien und ein im Kern glaubwürdiges Szenario zu vermitteln.
Gab es Ideen, die komplett über den Haufen geworfen wurden?
Die beiden hatten noch kein fertiges Konzept, als sie zu uns kamen, aber natürlich einige Vorstellungen. Anfangs sollten zum Beispiel – nach dem Vorbild der Nürnberger Prozesse* – Angela Merkel und Gerhard Schröder direkt als Angeklagte vor Gericht gestellt werden. Vor dem Internationalen Gerichtshof, für den sich die Autoren dann als Forum entschieden, gibt es aber nur Staatenverfahren. Um die Idee nicht völlig zu kippen, hat Angela Merkel im Film jetzt eine prominente Zeugenrolle bekommen – eine passable Lösung, finde ich. Der strafrechtlich orientierte Begriff "Ökozid"** steht allerdings in einer gewissen Spannung zu dem dargestellten Verfahren, das ja auf einen Entschädigungsanspruch wegen Verletzung völkerrechtlicher Verpflichtungen gerichtet ist.
Wie lief die Zusammenarbeit konkret ab?
Ich hatte Jutta Doberstein 2018 bei einer Konferenz kennengelernt. Im Sommer 2019 hat sie mir das Filmprojekt vorgestellt und mich gefragt, ob wir es unterstützen können. Jutta Doberstein und Andres Veiel sind bekannt dafür, dass sie sowohl für ihre Filmdokumentationen als auch für fiktionale Stoffe sehr rechercheintensiv und wissenschaftsnah arbeiten, daher habe ich gerne zugesagt. Vor einem Jahr haben wir dann mit beiden Filmautoren und mehreren Wissenschaftlern eine Art Workshop am Institut gemacht. Einen Tag lang haben wir Optionen durchgespielt, wie ein solcher Prozess ablaufen und mit welchem Urteil er enden könnte. Es war also ein gemeinsames Arbeiten, ein Austausch, an dem maßgeblich auch meine Kollegen Tom Sparks und Guillaume Futhazar beteiligt waren, und unsere Direktorin Anne Peters - keine Beratung. Wir können natürlich auch keinerlei Haftung für das Ergebnis übernehmen.
Haben Sie am Institut von der Zusammenarbeit auch profitiert?
Auf jeden Fall. Als Juristin wird man im Studium darauf trainiert, Sachverhalte bei Gerichtsverfahren retrospektiv zu beurteilen. Für den Film mussten wir uns dagegen ins Jahr 2034 hineinversetzen und Szenarien für die Zukunft entwerfen. Das ist ein ganz anderes Denken: Statt von bestehenden Sachzwängen auszugehen, kann man Möglichkeitsräume erschließen. Eine solche Art des Denkens ist durchaus relevant für den juristischen Bereich: Ministerien suchen oft händeringend Expertise in Fragen der Rechtsfolgenabschätzung. Bei der Erarbeitung von Gesetzentwürfen ist es unverzichtbar, zukünftige Entwicklungen vorauszudenken und einzuordnen. Auch in der Wissenschaft eröffnet eine solches „Denken in Szenarien“, basierend auf genauer Sach- und Rechtskenntnis, neue Lösungsmöglichkeiten und vermittelt Gewandtheit und Flexibilität im Umgang mit unvorhergesehenen Risiken, Konflikten und Umweltveränderungen. Insofern haben wir durch den Austausch mit den Drehbuchautoren einiges gelernt.
Waren Sie noch weiter in die Filmproduktion eingebunden?
Es gab zwischendurch immer wieder Detailfragen, etwa zur juristischen Terminologie oder wie sich Anwälte und Richter vor Gericht verhalten. Da haben wir natürlich weitergeholfen, auch wenn nicht alles umgesetzt wurde. Ich konnte zudem das fertige Drehbuch vorab lesen und habe die Schnittfassung für ein Screening bekommen. Eine interessante Entwicklung war, dass sich das Szenario, über das wir vor einem Jahr diskutiert haben, inzwischen als weniger fiktional herausgestellt hat, als es mir damals erschien.
Wie das?
Es gibt eine enorme, ungemein dynamische Entwicklung im Bereich der Klimaklagen. Um nur einige Beispiele zu nennen: Der Oberste Gerichtshof der Niederlande hat im Dezember 2019 die Regierung des Landes zur Einhaltung der Klimaziele verpflichtet. Diesen Juli hat das Oberste Gericht Irlands angeordnet, dass die Regierung einen neuen Klimaplan für den Zeitraum bis 2050 erarbeiten muss. Und auch vor dem Oberlandesgericht Hamm, dem Bundesverfassungsgericht und dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte laufen Verfahren, in denen es um den Schutz des Klimas geht. Zum 70-jährigen Jubiläum der Europäischen Menschenrechtskonvention gab es eine Konferenz „Human Rights for the Planet“, bei der intensiv über Möglichkeiten und Grenzen von Klimaklagen diskutiert wurde. Die Rede, die der Präsident des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte Róbert Spanó dort gehalten hat, hätte gut in den Film Ökozid gepasst.
Meinen Sie, Klimaschutz wird künftig tatsächlich von Gerichten durchgesetzt?
Davon gehe ich aus – aber wir sollten die Rolle der Justiz auch nicht überschätzen. Der Film selbst ist da sehr realistisch. Denn er zeigt auch das Spannungsverhältnis zwischen Gerichten und demokratischen Verfahren. Beim Klimaschutz können Gerichte vorangehen – sie bleiben aber eingebunden in politische Prozesse und öffentliche Auseinandersetzung. Im Film spielt die Interaktion mit der Öffentlichkeit eine große Rolle, wobei subversive Kräfte über Social Bots in den Sozialen Medien die deutsche Bevölkerung gegen die Kläger und ihre Anliegen aufstacheln. Am Ende gibt es große öffentliche Proteste. Das zeigt sehr eindrücklich, dass die größte Herausforderung darin liegt, eine breite Mehrheit der Menschen für den Klimaschutz zu gewinnen. Eine globale Solidarität, die zur Bewältigung der Herausforderungen des Klimawandels unverzichtbar ist, können Gerichte allein nicht herstellen.
Interview: Mechthild Zimmermann
*In den Gesprächen von Wissenschaftler*innen des MPI für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht mit den Autor*innen wurden verschiedene Prozessformen als mögliche Settings für den Film diskutiert. Dabei wurde auch überlegt, die Filmhandlung als internationales Strafverfahren anzulegen. In diesem Zusammenhang wurden die Nürnberger Prozesse erwähnt – ein zentraler historischer Ausgangspunkt der Entwicklung des internationalen Strafrechts, zudem in der Filmgeschichte immer wieder Inspiration des Court Room Drama als fiktionalem Genre. Eine Anlage der Filmhandlung in einer Form strafrechtlicher Aufarbeitung widersprach aber den Intentionen der Filmautor*innen, da diese kollektive und systemische Verantwortung nur unzureichend abbildet.
**Der Begriff "Ökozid" bezeichnet die Zerstörung von Ökosystemen. Erstmals wurde er im Zusammenhang mit dem Einsatz von "Agent Orange" und anderen massiven Umweltzerstörungen im Vietnamkrieg diskutiert und bleibt weiter Teil der internationalen rechtswissenschaftlichen und rechtspolitischen Debatte. In den 1990er Jahren wurde in den Verhandlungen zur Weiterentwicklung des internationalen Strafrechts eine Aufnahme in das Römische Statut diskutiert. Darüber konnte von den Vertragsstaaten keine Einigung erzielt werden. Schon damals gab es die Einsicht, dass die Zerstörung unserer Lebensgrundlagen durch Umweltverschmutzung und die ungebremste Nutzung fossiler Brennstoffe vor allem ein gesellschaftliches und systemisches Versagen ist.
[ergänzende Erläuterungen vom 20.11.2020]