Zeit und Hirngröße - von Mäusen und Menschen

Dresdner Forscher zeigen, dass die Länge jener Phase, während der Nervenzellen gebildet werden können, ein Schlüsselfaktor für die Hirngröße ist

Der Neokortex, der größte Teil unseres Gehirns, befähigt uns zum Sprechen, Träumen und Denken. Im Laufe der menschlichen Evolution hat die Größe des Neokortex drastisch zugenommen. Um zu verstehen, was diese Vergrößerung verursacht haben könnte, haben sich Forscher am Max-Planck-Institut für molekulare Zellbiologie und Genetik (MPI-CBG) in Dresden in bisherigen Studien auf ein Gen namens ARHGAP11B konzentriert, das nur beim Menschen vorkommt und eine verstärkte Produktion von Hirnstammzellen auslöst – eine Voraussetzung für ein größeres Gehirn. Nun hat dieselbe Forschungsgruppe bei der Untersuchung verschiedener Mauslinien eine weitere, ganz andere Ursache für die Vergrößerung des Neokortex herausgefunden: Je länger die Tragezeit (die Zeit zwischen Empfängnis und Geburt) einer Spezies ist, desto länger ist die Zeitspanne (neurogene Phase), in der neokortikale Nervenzellen gebildet werden, und desto größer ist die Anzahl der Nervenzellen in den oberen neokortikalen Schichten; diese sind ein Indikator für die Vergrößerung des Neokortex. Die Forscher fanden auch, dass während der Schwangerschaft die mütterliche Umgebung einen dominanten Einfluss auf die Länge der neurogenen Phase und damit auf die Anzahl jener Nervenzellen hat, die für die oberen neokortikalen Schichten gebildet werden. Damit haben die Forscher einen bisher unbekannten Zusammenhang zwischen dem mütterlichen Umfeld und der embryonalen neokortikalen Neurogenese während der Schwangerschaft entdeckt.

Der Neokortex ist evolutionär gesehen der jüngste Teil des Gehirns. Dabei ist der menschliche Neokortex etwa dreimal so groß wie der unserer nächsten lebenden Verwandten, der Schimpansen. In den letzten Jahren hat ein Forscherteam am MPI-CBG unter der Leitung eines der Gründungsdirektoren des Instituts, Wieland Huttner, die Ursache für die evolutionäre Expansion des menschlichen Neokortex erforscht. Der Neokortex besteht aus sechs Schichten von Nervenzellen, und es sind vor allem die oberen Schichten, die sich im Laufe der Evolution ausgedehnt haben. Zwar haben sich frühere Studien der Arbeitsgruppe mit jenen Genen beschäftigt, die dieser Expansion zugrunde liegen, dennoch schlug die Gruppe, basierend auf den Ergebnissen eines mathematischen Modells, bereits 2014 vor, dass bei Arten mit stark gefalteten Gehirnen die Zunahme der Anzahl neokortikaler Nervenzellen durch eine längere neurogene Phase – das Entwicklungszeitfenster, in dem neokortikale Nervenzellen produziert werden können – erklärt werden kann.

Längere Tragezeit – längere neurogene Phase – mehr neokortikale Nervenzellen

Die aktuelle Studie der Gruppe, die in der Zeitschrift Current Biology veröffentlicht wurde, liefert experimentelle Beweise für das Modell von 2014, dass die Verlängerung der neurogenen Phase ein zentraler Aspekt der Vergrößerung des Neokortex ist. Samir Vaid, einer der Hauptautoren der Studie, erklärt: „Als ich 2014 meine Arbeit im Forschungslabor von Wieland Huttner begann, war ich fasziniert von den Ergebnissen des mathematischen Modells, das damals gerade veröffentlicht wurde, und wollte es experimentell beweisen. Wir haben nun herausgefunden, dass Embryonen von Mauslinien mit einer längeren Tragezeit (20,5 Tage) tatsächlich eine längere neurogene Phase haben und bemerkenswerterweise mehr Nervenzellen für die oberen neokortikalen Schichten bilden als Embryonen von Mauslinien mit einer kürzeren Tragezeit (19,5 Tage).“ Die Bedeutung dieser Ergebnisse liegt darin, dass Menschen die Primaten mit der längsten Tragezeit, der längsten neurogenen Phase und der größten Anzahl neokortikaler Nervenzellen sind. Die neurogene Phase beim Menschen ist acht bis neun Tage länger als bei den Menschenaffen (Gorilla, Orang-Utan). Samir Vaid ergänzt: „Während der neokortikalen Neurogenese werden die Nervenzellen der oberen Schicht zuletzt gebildet. Daher führt eine Verlängerung dieser letzten Phase der Neurogenese zu einer spezifischen Vermehrung der Nervenzellen der oberen neokortikalen Schichten, was ein Kennzeichen der evolutionären Expansion des Neokortex ist.“

Einfluss der Mutter auf die Gehirnentwicklung

„Wir waren natürlich sehr froh, dass wir in Mäusen experimentelle Beweise für das Modell von 2014 mit seinen Folgerungen für die Evolution des menschlichen Gehirns liefern konnten“, so Barbara Stepien, Erstautorin der Studie. „Wir machten jedoch eine völlig unerwartete Beobachtung, als wir Embryonen von Mäusen mit kurzer Tragezeit in Mütter mit längerer Tragezeit transferierten, und umgekehrt. Mit Erstaunen stellten wir fest, dass nicht die genetische Anlage des Embryos, sondern vielmehr die mütterliche Umgebung bestimmt, wie lange die neurogene Phase dauert“, fährt sie fort. Das Team analysierte auch einen chimären Embryo von Maus und Ratte, der sich im Inneren einer Rattenmutter entwickelte, und fand heraus, dass Faktoren aus der Rattenumgebung die Bildung der Maus-Nervenzellen für die oberen neokortikalen Schichten beeinflussten. Das lässt vermuten, dass ein äußerer Einfluss auf die Nervenzellenbildung für die oberen neokortikalen Schichten ein konserviertes, speziesübergreifendes Phänomen sein könnte.

Folgerungen für die Entwicklung und Evolution des Gehirns

Wieland Huttner, der die Studie leitete, fasst die Ergebnisse zusammen: „Der zentrale Punkt dieser Studie ist, dass – zusätzlich zu spezifischen Genen – der Faktor Zeit als Determinante für die Hirngröße in Entwicklung und Evolution identifiziert wurde. Interessanterweise stehen die Wirkung der Gene und die Rolle der neurogenen Phase nicht im Widerspruch zueinander. So bewirkt das menschenspezifische Gen ARHGAP11B, das für die Expansion des menschlichen Neokortex wesentlich ist, tatsächlich eine Verlängerung der neurogenen Phase. Allgemeiner gesagt, könnten unsere Ergebnisse dazu beitragen, weitere Erkenntnisse über die Ursachen und Abhilfe von Störungen der neuralen Entwicklung, insbesondere im Bereich der Kognition, zu gewinnen.“

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