„Informelle Vereinbarungen als Chance für eine gerechtere Migrationspolitik“
Zurzeit verhandelt die Europäische Kommission mit Marokko, Algerien, Tunesien, Libyen und Mauretanien, die dafür sorgen sollen, dass Menschen auf der Flucht die Außengrenzen der Europäischen Union gar nicht erst erreichen – ein aktuelles Beispiel dafür, wie die EU ihre Verantwortung in Sachen Migration an Drittstaaten auslagert. Dieses Vorgehen ist eine Reaktion auf die Ankunft hunderttausender Schutzsuchender im Jahr 2015 mit dem Ziel, mittels außenpolitischer Instrumente irreguläre Migration einzudämmen. Solche Kooperationen mit Drittstaaten wie der EU-Türkei-Deal, aber auch der „Globale Pakt für Flüchtlinge“ der Vereinten Nationen kommen immer häufiger auf informeller Ebene zustande. Der Rechtswissenschaftler Luc Leboeuf vom Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung in Halle hat sich mit diesen neuen Instrumenten zur Steuerung der Migration befasst und festgestellt, dass sie sowohl Risiken als auch Chancen bergen.
Die EU-Türkei-Vereinbarung vom März 2016 und Verhandlungen mit weiteren Drittstaaten seither zielen darauf ab, Migrationsbewegungen schon vor der EU-Außengrenze zu stoppen. Ist das eine neue Entwicklung?
Nein, keineswegs. Seit Jahren schon schließen die Mitgliedstaaten und die EU sogenannte Rückübernahmeabkommen mit Ländern außerhalb der Europäischen Union ab. Es gibt für solche internationalen Vereinbarungen eine rechtliche Grundlage im EU-Vertrag. Doch wir beobachten vor allem seit dem EU-Türkei-Deal, dass der Trend zunimmt, die Sicherung und Kontrolle der Grenzen der EU-Mitgliedstaaten an die Außengrenzen zu verlegen. Dieses Einbeziehen der EU-Grenzen in die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik hat zur Folge, dass Migration nicht mehr in erster Linie als innenpolitisches Thema, sondern immer stärker als außenpolitische Angelegenheit wahrgenommen wird, die wiederum anderen Dynamiken unterliegt.
Was bedeutet das konkret?
Bisher gehören Grenzsicherung und -kontrolle eindeutig in den Bereich der Innenpolitik. Die Polizei ist für die Umsetzung zuständig unter strenger richterlicher Aufsicht. Die Rechtmäßigkeit der zur Verfügung stehenden Instrumente ist klar geregelt. Es gibt also einen festen rechtlichen Rahmen und ein hohes Maß an Rechtssicherheit. Das verändert sich aber gerade. Denn wenn man Grenzsicherung und -kontrolle zunehmend in Kooperation mit Drittstaaten regelt, wird aus dem traditionell rein innenpolitischen Gebiet der Migration ein zunehmend außenpolitisches Thema, für das andere Akteure verantwortlich sind und für das andere Instrumente zur Verfügung stehen, deren Rechtsnatur manchmal nicht eindeutig ist.
Welche Auswirkungen haben diese Verschiebungen?
Sie führen zunächst zu einer zunehmenden Informalisierung der Migrationspolitik. Denn die Instrumente, die in der Außenpolitik angewandt werden, sind Mittel der informellen Kooperation, etwa in Form verschiedener sogenannter Prozesse auf überregionaler Ebene wie dem „Budapester Prozess“, dem „Rabat-Prozess“, dem „Prager Prozess“ oder dem „Khartoum-Prozess“. Dabei handelt es sich um zwischenstaatliche Dialog- und Kooperationsforen, die zunehmend einen Bezugsrahmen für die praktische Zusammenarbeit auf der Arbeitsebene bilden. Diese Kooperationen werden anders als zum Beispiel bei den Debatten im Europäischen Parlament nicht im Licht der Öffentlichkeit ausgehandelt. Migrationspolitik wird also immer häufiger in verborgenen Räumen, man könnte auch sagen, in Hinterzimmern gemacht, in denen die für die Gewaltenteilung zuständigen Institutionen, nämlich das Europäische Parlament und der Europäische Gerichtshof, die angewendeten Instrumente nicht diskutieren oder überwachen können.
Welche Konsequenzen hat das für die Geflüchteten?
Nicht nur die Verhandlungen finden zunehmend in verborgenen Räumen statt, auch die Ausgrenzung Schutzsuchender selbst spielt sich immer häufiger jenseits der Öffentlichkeit ab. In den berüchtigten Internierungslagern in Libyen etwa, in denen Schutzsuchende landen, nachdem die Küstenwache sie an der Überfahrt über das Mittelmeer gehindert hat.
Das heißt, durch eine Informalisierung der Migrationspolitik, gewissermaßen durch Hinterzimmerdiplomatie, werden Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte gefährdet?
Ja, dieses Risiko besteht tatsächlich. Denn die Verlagerung der Migrationspolitik von der Innen- in die Außenpolitik bedeutet weniger demokratische Kontrolle, weniger Kontrolle durch die traditionellen Institutionen. Der Ansatz, den die EU und die Mitgliedstaaten bei den Vereinbarungen mit Drittstaaten aktuell verfolgen, zielt vor allem darauf ab, Grenzen zu sichern und zu kontrollieren, nicht Menschenrechte zu schützen. Dadurch steigt das Risiko von Menschenrechtsverletzungen, die in der Realität ja bereits passieren. Das lässt sich am erwähnten Beispiel der Kooperation der EU mit Libyen beobachten. Die libysche Küstenwache setzt regelmäßig Gewalt ein, um Schutzsuchende von der Überfahrt über das Mittelmeer abzuhalten. Genau an dieser Stelle wäre eine demokratische Kontrolle wichtig.
Das ist ja ein starkes Argument, das eindeutig gegen neue, informelle Instrumente der Migrationssteuerung spricht…
Das stimmt schon. Aber so einfach ist es nicht. Sie sind nicht ausschließlich negativ zu bewerten. Denn auf der anderen Seite ermöglicht die Verlagerung von der Innen- in die Außenpolitik mehr Spielraum für die außenpolitischen Akteure, neue Instrumente zur Migrationssteuerung zu entwickeln. Das lässt sich beim Globalen Pakt für Flüchtlinge der Vereinten Nationen vom November 2018 beobachten, der von der EU unterzeichnet wurde. Dabei geht es um Folgendes: Wenn etwa die EU auf der Ebene der Außenpolitik ein Abkommen mit anderen Staaten abschließt, hat sie eine eigene Agenda, aber auch die Länder des Globalen Südens haben ihre Agenda, die anders ist als die der EU. Sie sind daran interessiert, Migration in einem gewissen Rahmen zuzulassen, da sie aus vielerlei Gründen darauf angewiesen sind. Und genau hier liegt die Chance, die solche informellen Instrumente bieten: Man kann mit ihnen zu einer ausgeglicheneren Regelung kommen, weil man sich mit den Drittstaaten einigen muss. Das beste Beispiel hierfür ist tatsächlich der Globale Pakt für Flüchtlinge. Allerdings haben die Drittstaaten auf der außenpolitischen Bühne zurzeit keine starke Verhandlungsposition – anders als die EU. Daher könnten Verhandlungen momentan doch zu unausgewogenen Vereinbarungen führen.
Was überwiegt nun – die Chancen oder die Risiken?
Auch wenn diese Instrumente nicht rechtsverbindlich sind, sind sie dennoch ein Schritt in Richtung einer stärkeren internationalen Kooperation im Bereich der Migration. Wenn man also mehr Kooperation möchte, muss man vielleicht auch akzeptieren, dass Migrationspolitik zunehmend in verborgenen Räumen gemacht wird. Die Chancen dieser neuen Instrumente werden aber nur zum Tragen kommen, wenn wir uns in der Migrationspolitik von der aktuellen ausschließlich sicherheitsgetriebenen Agenda verabschieden. Das heißt, nur wenn auch entwicklungspolitische und menschenrechtliche Erwägungen zum Tragen kommen, besteht die Möglichkeit, mit Hilfe informeller Instrumente eine ausgewogene Migrationspolitik zu gestalten. #
Interview: Eva Völker