"Der Regenwald in Brasilien ist eines unserer größten Güter"

Interview mit Raquel Sirotti vom Max-Planck-Institut für Europäische Rechtsgeschichte über die Umweltagenda der Bolsonaro-Regierung

Im Juni erlebte der Amazonas-Regenwald in Brasilien, eines der vielfältigsten Ökosysteme der Erde und ein wichtiger Faktor beim Klimawandel, die schwersten Brände seit 13 Jahren. Nach zunehmender Kritik an Präsident Bolsonaros Umweltpolitik und wachsendem Druck nationaler und internationaler Investoren hat die braslianische Regierung angekündigt, für vier Monate Brandrodungen im Amazonas-Regenwald zu verbieten. Ein Gespräch mit Raquel Sirotti, Doktorandin am Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte, über die Bedeutung des 120-tägigen Stopps und Bolsonaros politische Strategie, auf Profit statt Umweltschutz zu setzen. 

Die brasilianische Regierung hat ein viermonatiges Verbot für Brandrodungen verhängt. Wie hoch ist Ihrer Meinung nach die Wahrscheinlichkeit, dass Präsident Jair Bolsonaro das Dekret durchsetzen wird?

Sirotti: Ich denke, es ist nicht wirklich eine Frage der Wahrscheinlichkeit – ich glaube das Problem ist, dass die meisten Brandrodungen im Regenwald in Brasilien illegal sind. Zwar können Sie ein Dekret erlassen, mit dem Sie Brandrodungen für eine gewisse Zeit verbieten, Sie können aber nicht kontrollieren, was illegal geschieht. Selbst wenn Bolsonaro die Maßnahme durchsetzen kann, würde ich deshalb sagen, dass es immer noch viele illegale Brandrodungen geben wird. Außerdem löst das Dekret das folgende Problem nicht: Was soll nach diesen vier Monaten geschehen? Der Inhalt dieses Dekrets ist keine Umweltpolitik. Das Dekret zeigt etwas auf, das von den brasilianischen Oppositionskräften immer wieder angeprangert wurde. Die Strategie der Regierung besteht darin, Brandrodungen und Abholzungen gegenüber nachsichtig zu sein, indem sie einerseits frühere Rechtsvorschriften und Normen kritisiert und andererseits keine klare Umweltpolitik verfolgt.

Wird die Einhaltung des Dekrets überwacht?

Die Regierungsagentur Ibama ist für die Überwachung der Umsetzung von Umweltmaßnahmen im Allgemeinen zuständig. Das Problem ist, dass diese Agentur seit Beginn der Bolsonaro-Regierung sehr schlecht behandelt worden ist. Bolsonaro hat eine Reihe von Ibama-Beamten entlassen und durch Angehörige des Militärs ersetzt, die keinerlei Erfahrung in Umweltpolitik haben. Es hat also einen Personalwechsel in dieser Agentur gegeben, durch den die Durchsetzung von Umweltmaßnahmen gefährdet ist. Auch der Direktor der Agentur, die für die Erstellung von Daten über die Abholzung des brasilianischen Regenwaldes zuständig ist, das INPE, wurde im vergangenen Jahr entlassen, nachdem er bekannt gegeben hatte, dass die Abholzung im Jahr 2019, dem ersten Regierungsjahr von Bolsonaro, im Vergleich zum Vorjahr um 88 Prozent zugenommen habe. Er wurde durch jemandem aus dem Militär ersetzt, was eine Menge Diskussionen darüber auslöste, wie vertrauenswürdig die von dieser Agentur produzierten Daten sein können. Und nicht zuletzt wird der Amazonia Found, die Institution, die für die Verwaltung der Ressourcen zur Verhütung, Überwachung und Bekämpfung der Waldrodung zuständig ist, derzeit vom Vizepräsidenten Hamilton Mourão geleitet, der ebenfalls ein Angehöriger des Militärs ist und keine Erfahrung mit Umweltpolitik hat.

Die brasilianische Regierung ist für ihre laxe Umweltpolitik kritisiert worden. Bereits während des Wahlkampfes hatte Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro versprochen, den Amazonas für eine verstärkte wirtschaftliche Nutzung zu öffnen. Warum diese Kehrtwende beim 120-Tage-Dekret?

Bei einer Ministerkonferenz am 22. April sagte der Umweltminister Ricardo Salles, die Regierung solle die Coronavirus-Krise nutzen, um weitere Deregulierungen der Umweltpolitik durchzusetzen und mehr Macht an die Agrarindustrie zu übergeben, da sich die gegenwärtige Aufmerksamkeit der Presse auf die Berichterstattung über die Covid-19-Pandemie konzentriere. Seit das Video dieser Konferenz per Gerichtsbeschluss veröffentlicht wurde, hat die Regierung jedoch heftige Kritik von internationalen Investoren und Fonds erhalten, die Naturschutzprojekte unterstützen. Sie haben Druck auf die Regierung ausgeübt, mehr für den Schutz des Regenwalds zu tun, und damit gedroht, andernfalls ihr Kapital abzuziehen.

Als Reaktion darauf wurde nun das Dekret zur Einstellung der Brandrodungen verkündet. Es wird versucht, die Brandrodungen stärker zu regulieren und von der Vorstellung wegzukommen, Bolsonaro öffne den Regenwald für Profiteure. Dies ist eine unmittelbare Folge des internationalen Drucks, aber noch lange keine Umweltschutzpolitik.

Versucht Bolsonaro nur, seine internationalen Kritiker zu beruhigen?

Ich würde sagen, er versucht dafür zu sorgen, dass weiterhin internationales Geld nach Brasilien kommt, indem er den Eindruck erweckt, dass ihm die Umwelt am Herzen liege und dass er, obwohl er eine Politik der wenigen Vorschriften durchgesetzt hat, nicht alles zerstören wird.

Wie kann die internationale Staatengemeinschaft Einfluss auf Jair Bolsonaro nehmen, um den Regenwald langfristig zu schützen?

Ich denke, die erfolgreichste Strategie war der Druck der Unternehmen, die Drohung internationaler Investoren und Unternehmer, Geld aus Brasilien abzuziehen, wenn der Umweltminister weiterhin den Regenwald für Investoren öffnet, damit diese dort tun können, was sie wollen. Bedauerlicherweise scheint dies die einzige Sprache zu sein, die er versteht. Es muss gesagt werden, dass Bolsonaro einen völligen Mangel an Fingerspitzengefühl hinsichtlich der Einhaltung internationaler Umweltschutzstandards und Umweltschutz-Agenden gezeigt hat. Doch gerade jetzt, wo die Regierung wegen der Coronavirus-Pandemie vor großen wirtschaftlichen Problemen steht, ist internationales Geld von großer Bedeutung. Ich glaube, dass die bisher verfolgte Strategie - Druck seitens der Unternehmen, falls sich Brasiliens Umweltbilanz weiter verschlechtert - wirksam sein wird, solange sie auch nach Ablauf des 120-Tage-Dekrets beibehalten wird.

Sind Einfuhrbeschränkungen für brasilianische Produkte sinnvoll?

Ich denke schon. Das Land befindet sich in einer enormen Wirtschaftskrise, und ein Einfuhrverbot für Produkte aus Ländern, die sich nicht an die Umweltvorschriften halten, wird diese Krise noch weiter verschärfen. Daher ist für Brasilien alles, was mit Investitionen, Geld und Spenden zu tun hat, im Moment sehr wichtig, noch wichtiger sogar als vor der Krise.

Wie ist die allgemeine Akzeptanz von Recht und Ordnung? Werden Gesetze eingehalten oder eher ignoriert, wenn dies nicht überwacht wird?

Ich denke, unter Bolsonaros Regierung werden Umweltpolitik und Umweltschutzvorschriften im Allgemeinen nicht eingehalten oder durchgesetzt. Wie ich schon sagte, gibt es viele Berichte darüber, dass die Beamten, die für die Einhaltung dieser Gesetze zuständig sind, durch Militärpersonal ersetzt werden, was eine große Herausforderung für die Strafverfolgung darstellt. Bolsaro hebt Personen seines Vertrauens in Ämter, die seine Grundüberzeugungen teilen, was natürlich dazu beiträgt, dass diese Gesetze nicht eingehalten werden.

Tatsächlich reichten Bundesanwälte Anfang Mai eine Klage gegen den Umweltminister Ricardo Salles ein, in der sie seine Entlassung fordern und ihn beschuldigen, seine Pflichten zum Schutz der Umwelt verletzt zu haben. Es gibt also eine Bewegung, die in die andere Richtung geht, nämlich den Versuch, Salles durch jemanden zu ersetzen, der sich mehr mit Umweltpolitik befasst.

Rund 10.000 Quadratkilometer Amazonaswald wurden im vergangenen Jahr gerodet, begleitet von großen Bränden. Gibt es Widerstand der brasilianischen Bevölkerung gegen die Brandrodungen?

Ja, auf jeden Fall! Auch wenn es eine große Gruppe von Menschen gibt, die im Agrargeschäft tätig sind, ebenso wie Landbesitzer, die ein großes Interesse an laxeren Umweltschutzvorschriften haben, wird der Regenwald in Brasilien im Allgemeinen als eines unserer größten Güter angesehen, das erhalten, gepflegt und nicht an internationale Interessen verkauft werden sollte. Die linken und liberaleren Parteien sind sehr besorgt über die Abholzung und kritisieren den Umweltminister Salles. Auch die Mittelschicht, von denen viele tatsächlich Bolsonaro gewählt haben, ist sehr besorgt über das Fehlen solcher Umweltschutzverordnungen. Es herrscht viel Verwirrung und Unzufriedenheit - auch unter denjenigen, die bei der Wahl  Bolsonaro ihre Stimme gegeben haben.

Wie wird das Thema Schutz des Regenwalds in der brasilianischen Gesellschaft gesehen?

Seit der Regierung der Arbeiterpartei, also schon vor Bolsonaro, ist das Thema Umweltrecht, insbesondere das überarbeitete brasilianische Waldgesetz aus dem Jahr 2012, ein sehr sensibles und viel diskutiertes Thema. Seit der Aktualisierung im Jahr 2012, die recht kontrovers war und viel Verwirrung gestiftet hat, ist die Frage, wie und mit welchen Maßnahmen der Regenwald erhalten werden kann, in der brasilianischen Gesellschaft ein viel diskutiertes Thema.

Vielen Dank für dieses Interview!

 Das Interview führte Barbara Abrell

 

 

Weitere interessante Beiträge

Zur Redakteursansicht