Forscher schauen dem Gehirn dabei zu, wie es sich Räume merkt

26. Juni 2020

Unser Gehirn konstruiert mentale Karten der Umwelt aus den Erfahrungen unserer Sinne – so können wir uns orientieren, uns erinnern, wo etwas passiert ist, und planen, wohin wir als Nächstes gehen. Forschende des Max-Planck-Instituts für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig und des Kavli Institute for Systems Neuroscience in Trondheim haben nun ein neues Computermodell entwickelt, das unserem Gehirn direkt dabei zuschauen kann, wie es sich orientiert und sich etwas merkt. In ihrer jüngsten Veröffentlichung zeigen sie, dass neu gebildete Erinnerungen einen direkten Einfluss darauf haben, wie unser Gehirn die Umwelt abbildet. Je besser wir unsere Umgebung kennen, desto weniger Informationen müssen neu integriert werden. Dies wirkt sich direkt auf unsere Hirnaktivität aus, und ist nun messbar.

Die bemerkenswerte Fähigkeit unseres Gehirns, Karten der Umwelt zu bilden und sie bei Bedarf abzurufen, erfordert mehrere komplexe neuronale Berechnungen. Viele von ihnen laufen entlang eines neuronalen Pfades ab, der von der Sehrinde bis zu den übergeordneten Gedächtniszentren in unserem Gehirn reicht. Um zu verstehen, wie die einzelnen Hirnareale entlang dieses Pfades zusammenarbeiten, die unser Verhalten steuern, haben Matthias Nau und Christian Doeller vom MPI CBS gemeinsam mit ihren Kollegen aus Norwegen einen Algorithmus entwickelt. Dieses sogenannte Kodierungsmodell ermöglicht es ihnen, die Hirnaktivität von Versuchsteilnehmern direkt mit ihrem Verhalten und ihrer fortlaufenden Gedächtnisbildung in Verbindung zu bringen. Insbesondere wollte das Team wissen, wie das menschliche Gehirn die Umwelt während eines natürlichen und sehr komplexen Verhaltens abbildet - nämlich der räumlichen Navigation.

Natürliches Verhalten in virtueller Umgebung beobachtet

Um eine breite Perspektive auf das menschliche Gehirn zu erhalten, verwendeten die Wissenschaftler funktionelle Magnetresonanztomographie – ein bildgebendes Verfahren, das die Aktivität des ganzen Gehirns über den Blutfluss messen kann. Die Studienteilnehmer lagen in einem 7-Tesla-MRT-Scanner und navigierten in einer virtuellen Arena mit Hilfe einer Tastatur: Sie merkten sich die Position von versteckten Objekten. „Um zu verstehen, wie sich unsere Teilnehmer bei dieser Aufgabe orientierten, haben wir analysiert, wie ihre Hirnaktivität zu jedem Zeitpunkt widerspiegelte, in welche Richtung sie sich bewegten.“, erklärt Matthias Nau. Ohne eine funktionierende Richtungswahrnehmung wäre diese Aufgabe nicht lösbar gewesen. „Wir bauten ein Kodierungsmodell ihrer Blickrichtung auf, um den Einfluss der Richtung auf die neuronale Aktivität in jedem Teil des Gehirns abzuschätzen. Mit Hilfe dieses Modells konnten wir nun vorhersagen, wie sich die Aktivität in neuen Daten desselben Teilnehmers entfalten wird.“ Hierfür simulierte der Algorithmus nicht nur eine, sondern viele mögliche Versionen davon, wie genau jedes einzelne Hirnareal die Richtung repräsentieren könnte. Die Forscher erkannten, welche Version des Modells neue Daten am besten vorhersagte, und konnten so bisher unbekannte Details des Richtungscodes im gesamten Gehirn abbilden.

Hirnaktivität spiegelt vom Gedächtnis gesteuertes Verhalten wider

Die neuartige Analysemethode ermöglichte es, die menschliche Richtungswahrnehmung in noch nie dagewesener Detailgenauigkeit zu vermessen. So beobachteten die Wissenschaftler nicht nur einen Anstieg der Hirnaktivität in Regionen, die räumliche Informationen aus den visuellen Reizen herausfiltern, sondern konnten besonders in den höheren Gedächtnisregionen Hinweise darauf finden, wie gut sich die Teilnehmer an die Orte der gesuchten Objekte erinnerten.

Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass der Prozess der Kodierung der Welt und der Objekte in ihr, sprich der neuronalen Kartenbildung, Einfluss darauf hat, wie das gesamte Netzwerk an Regionen im Gehirn Informationen verarbeitet, die wir gerade aus unserer Umwelt ableiten. Das Zusammenspiel verschiedener visueller und gedächtnisbildender Hirnareale hängt also viel direkter mit gedächtnisgesteuertem Verhalten zusammen, als bisher bekannt. Normalerweise betrachten wir unser Gedächtnis als eine Art Speicher für Erfahrungen aus unserer Vergangenheit, die wir uns so wieder in Erinnerung rufen können. Aber warum haben wir überhaupt ein Gedächtnis? Wir haben es, damit wir von unseren Erfahrungen der Vergangenheit lernen und unser Verhalten in Zukunft entsprechend anpassen können. Die Wissenschaftler dieser Studie zeigten, dass unsere Erinnerungen einen direkten Einfluss darauf haben, wie wir unsere Umgebung wahrnehmen, und dass diese Interaktion zwischen Wahrnehmung und Gedächtnis unser tägliches Verhalten steuert.

Die neu entwickelte Methode stellen die Wissenschaftler der Fachwelt als Analysewerkzeug in Open Access zur Verfügung, um sie auch auf andere Daten, wie zum Beispiel EEG-Daten, oder auch in Tiermodellen anzuwenden. So können die neuronalen Prozesse bei der Gedächtnisbildung und Raumnavigation noch umfassender untersucht werden.

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