Statistische Analysen von pflanzlichen Inhaltsstoffen
Hochdurchsatzauswertungen von Stoffwechselprodukten des Kojotentabaks belegen, dass komplexe Stoffwechseländerungen nach Insektenbefall zielgerichtet zur Produktion von Abwehrstoffen erfolgen
Wird die chemische Verteidigung von Pflanzen zielgerichtet gegen Schädlinge aktiviert oder sind pflanzliche Stoffwechselveränderungen zufällig und wirken sich auf diese Weise negativ auf Fraßfeinde aus? Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für chemische Ökologie und des CNRS-Instituts für Molekulare Pflanzenbiologie/Universität Straßburg in Frankreich testeten diese seit Langem unbestätigten Hypothesen anhand des Kojotentabaks und seiner engen Verwandten. Dabei kombinierten sie umfangreiche Messungen bekannter und unbekannter pflanzlicher Stoffwechselprodukte mittels Massenspektrometrie mit statistischen Annahmen aus der Informationstheorie. Die Ergebnisse zeigen, dass der Stoffwechsel bei Befall zielgerichtet zur Bildung von effektiven Abwehrstoffen gesteuert wird. Zudem ergab ein vergleichender Ansatz verschiedener Populationen und eng verwandter Arten, dass die Menge bestimmter Pflanzenhormone für die gerichtete pflanzliche Antwort auf den Angreifer entscheidend ist. (Science Advances, doi: 10.1126/sciadv.aaz0381, Juni 2020).
Alle Lebewesen auf der Erde können in zwei große Gruppen unterteilt werden: diejenigen, die ihre Nahrung selbst aus abiotischen Quellen, wie Licht, herstellen, und diejenigen, die andere Lebewesen fressen. Die unterschiedlichen Ernährungsweisen haben Auswirkungen auf den Stoffwechsel. Pflanzen, die ihre Energie aus Licht gewinnen, stellen viel größere Vielfalt an Stoffwechselprodukten her als Lebewesen, die andere fressen. Schon lange fragten sich Wissenschaftler, welche evolutionären Kräfte hinter diesem Unterschied stecken. Bereits in den 50er-Jahren wurde die Vermutung geäußert, dass Pflanzen bestimmte Inhaltsstoffe unter anderem zu ihrer Verteidigung nutzen. Dabei gibt es zwei unterschiedliche Theorien, wie die Produktion solcher Abwehrstoffe erfolgt: Pflanzen richten ihren Stoffwechsel so aus, dass sie Verbindungen mit Abwehrfunktion entsprechend der Wahrscheinlichkeit eines zukünftigen Angriffs produzieren. Diese Theorie heißt „optimale Verteidigung“. Im Gegensatz dazu gibt es eine zweite Theorie, die davon ausgeht, dass Pflanzen ihren Stoffwechsel zufällig ändern. Für Pflanzenfresser ist es daher nicht vorhersehbar, welche Stoffe gebildet werden: Sie können sich nicht an die pflanzliche Verteidigung anpassen. Man spricht auch von der Theorie des sich bewegenden Ziels, denn die Abwehr ist nicht zielgerichtet, sondern trifft Angreifer wahllos.
Auch wenn einzelne Abwehrstoffe, die nach Befall gebildet werden, inzwischen gut charakterisiert sind, konnte bislang nicht experimentell getestet werden, welche Theorie zutrifft. Um diese Frage zu beantworten haben Wissenschaftler vom Max-Planck-Instituts für chemische Ökologie in Jena und des CNRS-Instituts für Molekulare Pflanzenbiologie/Universität Straßburg jetzt die ökologische Modellpflanze Nicotiana attenuata (Kojotentabak) nach Befall durch zwei unterschiedliche Fraßfeinde untersucht. Die Raupen des Tabakschwärmers sind dabei Spezialisten, die nur an Nachtschattengewächsen fressen und generell gut an die Abwehrstoffe ihrer Nahrung angepasst sind, während die Raupen des Afrikanischen Baumwollwurms Generalisten sind und viele unterschiedliche Pflanzen fressen können, dadurch aber weniger an einzelne Pflanzenarten und deren Abwehrstoffe angepasst sind. Die Wissenschaftler analysierten mittels Massenspektrometrie bekannte, aber auch neue und unbekannte Stoffwechselprodukte, die Pflanzen nach Raupenfraß bildeten, und nutzten ein statistisches Prinzip der Informationstheorie für ihre Datenauswertung. Moderne Methoden der Massenspektrometrie erlauben es, unvoreingenommen so viele Substanzen wie möglich zu messen. „Was man dann braucht, ist eine Vorgehensweise, wie man die Daten aus verschiedenen methodischen Ansätzen und Pflanzenarten miteinander vergleichen kann. Außerdem ist es entscheidend, die gefundenen Substanzen zu identifizieren, was auf dem Gebiet der Metabolomik nach wie vor eine grundlegende Herausforderung ist. In dieser Studie haben wir einen neuen Ansatz für die computergestützte Auswertung dieser Daten entwickelt und diesen Ansatz angewendet, um damit Vorhersagen zu Theorien der pflanzlichen Abwehr zu testen“, erläutert Emmanuel Gaquerel, einer der Studienleiter.
„Der rechnerische Workflow, der eine unvoreingenommene und ganzheitliche Analyse des Pflanzenstoffwechsels ermöglicht, zeigt deutlich, dass die Stoffwechselveränderungen in Pflanzen des Kojotentabaks, die von Raupen des Tabakschwärmers oder des Baumwollwurms angegriffen wurden, direkte Antworten auf den Befall sind“, fasst Ian Baldwin, einer der beiden Hauptautoren, die Ergebnisse der Studie zusammen. Die Studie untermauert also die Theorie der optimalen Abwehr: Pflanzen reorganisieren ihren Stoffwechsel zielgerichtet für die Bildung von Abwehrsubstanzen.
„Zu unserer Überraschung beobachteten wir, dass es bei den Stoffwechselprofilen kaum Unterschiede gab, wenn die Tabakpflanzen von spezialisierten Tabakschwärmern oder allesfressenden Baumwollwürmern angegriffen wurden, obwohl das Fressverhalten der beiden Schädlingsarten sehr unterschiedlich ist“, führt Dapeng Li, der Erstautor der Studie, weiter aus. Um herauszufinden, wie sich diese Strategie der Abwehr entwickelt hat und welche Stoffe dazu einen entscheidenden Beitrag leisten, nutzten die Wissenschaftler Pflanzen, bei denen ein Merkmal genetisch verändert worden war, sowie Pflanzenpopulationen derselben Art und verschiedener eng verwandte Arten. Dabei stellten sie fest, dass die Änderungen im Stoffwechsel als Reaktion auf Raupenfraß primär durch geringfügige Veränderungen in der Signalkette der Pflanzenhormone, insbesondere des Pflanzenhormons Jasmonsäure, gesteuert werden.
In weiteren Studien möchten die Wissenschaftler nun den neuen computergestützten Workflow anwenden, um zu verstehen, wie die innere Uhr und der Tag-Nacht-Rhythmus der Pflanzen den Stoffwechsel beeinflussen. Denn dabei handelt es sich um ein fundamentales Problem für alle Lebewesen, die für ihre Ernährung direkt auf das Sonnenlicht angewiesen sind, das aber durch die Erdrotation um die Sonne nur zu bestimmten Zeiten zur Verfügung steht.