Kosmisches Karussell

Die neue Computersimulation TNG50 zeigt, wie sich das Universum entwickelte und aus Chaos allmählich Ordnung entstand

Galaxien gelten als die größten Bausteine im Universum. Wie aber wurden sie geboren? Wie haben sie sich entwickelt? Um den Antworten auf diese Fragen näher zu kommen, hat ein internationales Team – darunter auch Forschende aus den Max-Planck-Instituten für Astronomie und Astrophysik – das All in den Computer gepackt. Das Ergebnis heißt Illustris TNG50 und ist die bisher detailreichste kosmologische Großsimulation. Sie zeigt erstmals, dass die Geometrie der kosmischen Gasflüsse in und um Galaxien die Struktur dieser Sternsysteme beeinflusst. Umgekehrt ergeben sich die Eigenschaften der Gasflüsse aus der Entwicklung der Galaxien. 

Astronomen, die den Kosmos simulieren, stecken in einem Dilemma: Wegen der begrenzten Rechenleistung sind typische Simulationen entweder sehr detailgetreu, oder sie umfassen ein großes Volumen im virtuellem Raum. Detaillierte Simulationen mit kleinem Volumen können jedoch nur ein paar Galaxien modellieren; das erschwert statistische Rückschlüsse. Großräumigen Simulationen wiederum fehlen typischerweise die notwendigen Details, um wichtige Eigenschaften des realen Universums zu erklären; das reduziert deutlich ihre Vorhersagekraft. Mit TNG50 gelang es den Forschenden erstmals, eine großräumige kosmologische Simulation mit der hohen Auflösung einer detaillierten Simulation zu verbinden, wie sie bisher nur für Untersuchungen einzelner Galaxien möglich war. 

In einem virtuellen würfelförmigen Ausschnitt des Weltalls mit Seitenlängen von 230 Millionen Lichtjahren kann TNG50 physikalische Phänomene darstellen, die auf einer vergleichsweise kleinen Skala auftreten und so die gleichzeitige Entwicklung Tausender von Galaxien über 13,8 Milliarden Jahre kosmischer Geschichte hinweg verfolgen. Die Bausteine der Simulation sind dabei 20 Milliarden Teilchen, die Dunkle Materie, Sterne, kosmisches Gas, Magnetfelder und supermassereiche schwarze Löcher darstellen. Die Berechnung selbst erforderte 16.000 Computerkerne (cores) auf dem Supercomputer Hazel Hen in Stuttgart, die mehr als ein Jahr lang rund um die Uhr gearbeitet haben – das entspricht 15.000 Jahren Rechenzeit auf einem einzigen Prozessor. TNG50 ist damit eine der anspruchsvollsten astrophysikalischen Simulationen überhaupt.

Zu den ersten wissenschaftlichen Ergebnissen von TNG50, die jetzt ein Team unter der Leitung von Annalisa Pillepich (Max-Planck-Institut für Astronomie, Heidelberg) und Dylan Nelson (Max-Planck-Institut für Astrophysik, Garching) veröffentlicht hat, zählen auch einige durchaus unerwartete Phänomene. „Numerische Experimente dieser Art sind besonders erfolgreich, wenn mehr herauskommt, als man hineingesteckt hat“, sagt Nelson. In der Simulation tauchten Phänomene auf, welche die Wissenschaftler nicht explizit programmiert hatten. „Diese Phänomene ergeben sich auf natürliche Weise aus dem Zusammenspiel der grundlegenden physikalischen Bestandteile unseres Modelluniversums.“

Die neue Simulation liefert dafür zwei eindrückliche Beispiele. Zum einen geht es um die Entstehung von Scheibengalaxien wie unserer eigenen Milchstraße. Mit TNG50 als „Zeitmaschine“ konnten die Forscher die kosmische Geschichte zurückspulen und sich dann systematisch ansehen, wie die schnell rotierenden Scheibengalaxien mit ihren geordneten Sternbewegungen aus den chaotischen, ungeordneten und hoch turbulenten Gaswolken früherer Epochen hervorgehen. Nach und nach kommt das Gas dabei zur Ruhe. Sterne, die aus diesem Gas entstehen, finden sich damit immer häufiger auf Kreisbahnen und bilden schließlich eine große Spiralgalaxie als eine Art galaktisches Karussell.

„TNG50 zeigt, dass sich unsere eigene Milchstraßengalaxie mit ihrer dünnen Scheibe voll im Trend befindet", sagt Annalisa Pillepich. In den vergangenen zehn Milliarden Jahren seien zumindest diejenigen Galaxien, in denen noch neue Sterne entstehen, immer scheibenartiger geworden; zudem haben sich ihre chaotischen inneren Bewegungsmuster deutlich abgeschwächt. Kurz: „Das nur ein paar Milliarden Jahre alte Universum war viel chaotischer als heute."

Die Astronomen haben bei der simulierten Evolution ihrer Galaxien ein weiteres Phänomen ausgemacht: Gas und Teilchenwinde, die mit hoher Geschwindigkeit aus den Galaxien ausströmen. Ursache sind Supernova-Explosionen sowie die Aktivität der supermassereichen schwarzen Löcher in den Zentren von Galaxien. Das Gas verlässt das Milchstraßensystem dabei zunächst in beliebige Richtungen – eine durchaus chaotische Situation. Aber mit der Zeit, und das wurde nicht von vornherein einprogrammiert, spielen sich die Gasströmungen auf einen Weg des geringsten Widerstands ein. Im späten Weltall strömt das Gas dann typischerweise in zwei entgegengesetzte Richtungen innerhalb von kegelförmigen Regionen aus. Sie ähneln zwei Eistüten – Spitze an Spitze positioniert, mit der Galaxie in der Mitte. Solche Strukturen findet man auch in den realen astronomischen Beobachtungsdaten.

Unter dem Einfluss der Schwerkraft von Dunkler Materie, welche die Galaxie einhüllt, werden diese Winde dann immer langsamer. Wie das Wasser einer Fontäne können sie auf die Ursprungsgalaxie zurückfallen und sie mit recyceltem Gas versorgen. Dieser Prozess sorgt außerdem für eine Umverteilung des Gases vom Zentrum einer Galaxie in ihre Außenbezirke und beschleunigt damit die Umwandlung der Galaxie in eine dünne Scheibe: Galaktische Strukturen bringen galaktische Fontänen hervor und umgekehrt.

Ebenso wie die anderen Simulationen der TNG-Familie werden die Mitglieder des TNG50-Teams, zu dem neben den Max-Planck-Forschern auch amerikanische Wissenschaftler gehören, ihre Simulationsdaten beizeiten im Ganzen veröffentlichen. Dann können Astronomen weltweit ihre eigenen Entdeckungen im TNG50-Universum machen – und womöglich noch weitere Beispiel für Phänomene finden, bei denen auf kosmischen Größenskalen Ordnung aus dem Chaos des frühen Universums hervorgeht.

MP / HOR

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