Nadelstiche gegen Justitia

Wie unabhängig ist das deutsche Rechtssystem?

17. September 2019

Seit 70 Jahren garantiert das Grundgesetz die Unabhängigkeit der Richter. Diese sind in ihren Entscheidungen „nur dem Gesetze unterworfen“. Doch gibt es nicht auch andere Einflüsse? Die Rechtswissenschaftler Konrad Duden vom Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht in Hamburg und Jasper Kunstreich vom Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte in Frankfurt am Main sind der Frage nachgegangen und haben erstaunliche Antworten gefunden.

Text: Michaela Hutterer

Zu jeder Geburtstagsfeier gehört die Frage nach dem Befinden des Jubilars. Das ist auch beim Grundgesetz so, das seit 70 Jahren neben den Grundrechten des Einzelnen auch eine unabhängige Justiz garantiert. Doch wie steht es um Justitia in Zeiten, da auto­kratische Tendenzen in Europa zunehmen, politische Übergriffe auf den Rechtsstaat sich häufen und der Respekt vor staatlichen Institutionen wie auch der Justiz zu sinken scheint? 

In manchen Ländern der Europäischen Union ist der Rechtsstaat bereits unter Beschuss geraten. So sehr, dass die EU-Kommission nun einen jährlichen Rechtsstaatlichkeits-Check einführen will – für alle Unionsmitglieder, damit diejenigen, die sich bereits am weitesten von der verpflichtenden Maxime einer freien und unabhängigen Justiz entfernt haben, nicht allein im Fokus stehen.

Am auffälligsten ist die Entwicklung in Polen. In nicht einmal vier Jahren hat die regierende PiS-Partei, die sich „Recht und Gerechtigkeit“ nennt, dank ihrer Mehrheit im Parlament das Rechts­wesen so umgeformt, dass sie nahezu freien Zugriff auf Gerichte und Staatsanwaltschaft hat. „Die polnische Erfahrung reiht sich in eine Liste von Ländern, die sich mit unterschiedlicher Geschwindigkeit von den Konzepten der Gewaltenteilung und richterlichen Unabhängigkeit entfernen“, beobachten die Rechtswissenschaftler Konrad Duden vom Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht in Hamburg und Jasper Kunstreich vom Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte in Frankfurt. Gemeinsam gingen sie daran, die Hintergründe zu erforschen. Wie steht es um die Unabhängigkeit der Richter? Wie politisch ist die Justiz, wie frei der Gesetzgeber?

„Wir suchten einen breiten Diskurs, eine Diskussion in und mit der Öffentlichkeit“, erklären die Wissenschaftler. Gemeinsam mit der Politologin Astrid Séville von der Ludwig-Maximilians-Universität München luden sie zum Symposium nach Mainz. An die Akademie der Wissenschaften und der Literatur kamen Verfassungsrichter, Politikwissenschaftlerinnen, Verfassungsrechtler, Rechtshistorikerinnen, Politiker und Medienvertreterinnen und gingen vor und mit 150 Gästen der Frage nach: Wie viel Verrechtlichung der Politik, wie viel Politisierung der Justiz verträgt und braucht ein gewaltengeteilter Rechtsstaat? Ihr Fazit: Die Errungenschaften des Rechtsstaats sind keineswegs selbstverständlich und müssen in Zeiten populistischer Propaganda und neu entstehender autokratischer Systeme stets aufs Neue verteidigt werden.

Richter als Kontrahenten 

Rechtsstaaten sterben selten laut, krachend, mit Putsch und Krawall. Sie erodieren – schleichend, leise, vielfach unbemerkt. Die Demontage des Rechts erfolgt mit den Mitteln des Rechts. „Es sind punktuelle Verordnungen, Anweisungen oder harmlos anmutende Vorschriften in neuen Gesetzen“, erklärt Konrad Duden: „Viele kleine Nadelstiche statt eines brutalen Axthiebs – die Folgen sind vergleichbar.“

Warum? „Autokratisch orientierte Regierungen folgen einem bekannten Skript, das ihnen Macht sichern soll, ohne zu viel dramatisches Aufsehen zu erregen“, weiß Rechtshistoriker Jasper Kunstreich. Dazu gehören die Förderung von Ressentiments in der Gesellschaft, das Einschwören auf einen gemeinsamen „Volkswillen“ und der Alleinvertretungsanspruch bis hin zur Gleichschaltung der Gewalten. Gegenspieler wie Justiz, Presse, Kunst und auch Wissenschaft werden sukzessive ausgeschaltet.

Ein erstes Ziel sind oft die Verfassungsgerichte: gezielte Diskreditierung der Richter, Schwächung ihrer Autorität, Anzweifelung von Entscheidungen, Entzug der Ressourcen, verweigerte Nachbesetzungen, Eingriffe in die Gerichtsverwaltung und Entscheidungsfindung, Umbesetzungen bis hin zur schlichten Nichtbeachtung von Entscheidungen.

Vieles davon zeigt sich etwa in Polen. Gewählte Verfassungsrichter wurden nicht ernannt, Wahlbeschlüsse revidiert und das Wahlverfahren verändert. „Verfassungsgerichte haben keine Streitmacht und keine Gerichtsvollzieher – sie haben nur die Kraft ihrer Worte“, erklärt Konrad Duden. Und in Polen dringen sie nicht einmal mehr nach außen: Nicht die Verfassungsrichter bestimmen, welche Entscheidungen das Gericht veröffentlichen darf, sondern die Regierung. Seit seiner Umbesetzung hat das Gericht nicht mehr zulasten der Regierung entschieden.

Dass hierzulande Richter und Richterinnen „unabhängig und nur dem Gesetze unterworfen“ sind, regelt Artikel 97 des Grundgesetzes – nun seit 70 Jahren. Den Vätern und Müttern des Grundgesetzes war von Anfang an klar, dass eine unabhängige Justiz für den Aufbau eines neuen, demokratischen Deutschlands unerlässlich ist. Zu offensichtlich waren die Ohnmacht oder der Schulterschluss der Justiz mit dem Regime im natio­nalsozia­listischen Deutschland gewesen, zu verheerend die Folgen. Gleich mehrmals schrieben sie daher die Aufgabenteilung zwischen der Justiz, der Exekutive (Regierung, Ministerien, Verwaltung) und der Legislative (Bundestag) in das Grundgesetz. Die Idee: Keiner herrscht allein, die Staatsgewalt ist aufgeteilt, und die Gewalten kontrollieren sich gegenseitig. Das Bundesverfassungsgericht stoppt den Bundeskanzler oder den Bundestag, wenn deren Vorhaben gegen das Grundgesetz verstößt.

Einfluss der Politik

Übergriffe der Politik auf die Justiz wie in Polen oder in der Türkei zeigen sich hierzulande nicht. Aber: Gibt es bereits erste Nadelstiche? Kleine Vorkommnisse, Initiativen oder gar Alltäglichkeiten, die dem Leitbild des Grundgesetzes zuwiderlaufen? Klar ist, Weisungen sind tabu. Kein Gerichtspräsident, kein Justizminister darf Richtern vorschreiben, wie sie zu entscheiden haben. Die Stiche setzen woanders an. Das Arbeitspensum, die Karriereaussichten und das Ansehen sind nur drei von vielen Bereichen, in denen politischer Druck spürbar wird. Richterwahl, Ressourcen und Reputa­tion sind deutliche Einfallstore.

Bei der Wahl der obersten Richter ist der Einfluss offensichtlich. „Diese Entscheidung ist eine fachliche und eine politische“, erklärt Konrad Duden. Nicht Richter oder Gerichtshöfe wählen hierzulande die Kollegen an den höchsten deutschen Gerichten aus, sondern Abgeordnete und Minister. Sie bestimmen, wer die Leitlinien der deutschen Rechtsprechung setzen darf. „Bei Bundesrichtern entscheidet der zuständige Bundesminister zusammen mit einem 32-köpfigen Gremium, das aus den entsprechenden Landesministern und 16 Bundestagsabgeordneten besteht“, erklärt Duden. „Die Auswahl orientiert sich an der Bestenauslese nach Eignung, Leistung und Befähigung, aber sie richtet sich auch nach dem Länderproporz und nach Absprachen unter den großen Parteien.“

Konkret bedeutet das: Ohne Kontakte zu Union und SPD wird kaum ein Kandidat Aussicht auf die rote Richterrobe in Kassel, München oder Leipzig haben. Die Wahl des Richters selbst ist nicht öffentlich, geheim und erfolgt mit einfacher Mehrheit. Mehr Transparenz würde dem Verfahren durchaus guttun, meinen Rechtsexperten. „Anforderungsprofil und Auswahlkriterien sind nicht klar. Die Stellen werden nicht ausgeschrieben“, weiß Jasper Kunstreich.

Politische Erwägungen spielen auch bei der Wahl zum Richter am Bundesverfassungsgericht eine Rolle. Scheidet eine Richterin, ein Richter nach zwölf Jahren Amtszeit oder durch Ruhestand aus, bestimmen Bundestag oder Bundesrat einen Kandidaten mit Zweidrittelmehrheit. Gewählt werden meistens Bundesrichter oder Professorinnen, gelegentlich auch aktive Politiker. „Die Auswahl der Kandidatinnen und Kandidaten ist auch hier Gegenstand politischer Absprachen“, sagt Konrad Duden.

Die hohe Hürde der Zweidrittelmehrheit setzt dabei voraus, dass es einen breiten Konsens über die Kandidaten gibt. „Eine öffentliche Anhörung – wie etwa in den USA – gibt es hierzulande bewusst nicht“, erklärt Duden und erinnert an die politisierten Anhörungsverfahren in den USA bei der Wahl zum Supreme Court. „Die Transparenz sollte keineswegs auf Kosten der Sachlichkeit gehen.“

Abhängigkeit von Ressourcen

Abhängig sind Gerichte aber nicht nur bei der Wahl der Richterinnen und Richter, sondern auch von ihren Ressourcen. Bund und Länder stellen in ihren Haushalten die Mittel bereit, sodass letztlich die Exekutive entscheidet, wie gut die Gerichte ausgestattet sind – vom PC über die Mitarbeiter bis zum Wachdienst. Laut einer aktuellen Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach unter 988 Richtern und Staatsanwältinnen beklagten die Befragten vor allem eine unzureichende personelle wie technische Ausstattung. Die Mehrheit sieht über die letzten Jahre eine Verschlechterung der Rahmenbedingungen. Doch zugleich wächst in der Bevölkerung die Kritik an zu langen Verfahrensdauern und an der Überlastung der Gerichte, wie eine weitere Umfrage zeigt.

Vor diesem Hintergrund haben Bund und Länder im Januar 2019 den „Pakt für den Rechtsstaat“ geschlossen. Gemeinsam wollen sie bis 2021 bundesweit 2000 neue Stellen für Richter, Staatsanwältinnen und Mitarbeiter schaffen, darunter auch zwei neue Senate für den Bundesgerichtshof. Für Insider viel zu wenig.

Die Politik beeinflusst die Gerichte aber auch noch auf andere Weise – und diese Weise wirkt tief greifend: Man ignoriert sie. Beispiel Dieselfahrverbote: Baden-Württemberg ließ ein Urteil seines Verwaltungsgerichtshofs ins Leere laufen und kassierte ein Zwangsgeld, weil das Land keine Dieselfahrverbote für Euro-5-Motoren im Luftreinhalteplan festlegte. Bayern weigerte sich sogar, nur ein Konzept für „verhältnismäßige“ Dieselfahrverbote in München zu erarbeiten.

„Wenn die Behörden einfach nicht tun, was ein Gericht anordnet, sabotiert die zweite Gewalt die dritte“, kommentiert der Journalist und Jurist Heribert Prantl in der Süddeutschen Zeitung und verweist auf den Fall des Islamisten Sami A. aus Nordrhein-Westfalen, der im vergangenen Jahr nach Tunesien abgeschoben wurde, obwohl die Verwaltungsrichter in Gelsenkirchen dies wegen formaler Fehler untersagt und die Rückführung angeordnet hatten. Das nordrhein-westfälische Oberverwaltungsgericht bestätigte diese Entscheidung, was der zuständige Innenminister Herbert Reul (CDU) gegenüber der Presse deutlich kritisierte: „Die Unabhängigkeit von Gerichten ist ein hohes Gut. Aber Richter sollten immer auch im Blick haben, dass ihre Entscheidungen dem Rechtsempfinden der Bevölkerung entsprechen.“

Für Jasper Kunstreich extrem brisant: „Richter sind an Recht und Gesetz gebunden, nicht an die Wünsche und Gefühle des Volkes.“ Werden umstrittene Urteile mit Verweis auf ein diffuses Rechtsempfinden der Bevölkerung kritisiert, zerstört dies sukzessive die Autorität der Gerichte.

Geringschätzen, Abwerten oder Ignorieren: Die Diffamierung von Richtern zielt – bewusst oder unbewusst – in das Machtzentrum der Justiz: das Vertrauen der Bevölkerung in eine effektive und unabhängige Gerichtsbarkeit. Dieses ist in Deutschland unverändert hoch. Kaum einer staatlichen Institution bringen die Deutschen so viel Vertrauen entgegen wie dem Bundesverfassungsgericht. Selbst umstrittene Entscheidungen haben daran nichts geändert, wie Studien des Politikwissenschaftlers Hans Vorländer zeigen – weder 1975, als der Beschluss zum Schwangerschaftsabbruch für Aufruhr sorgte, noch 1995, als das Gericht die bayrische Kruzifixpflicht für Schulgebäude kippte. Laut Vorländer besitzt das Verfassungsgericht sogar einen Vertrauensvorsprung vor anderen politischen Institutionen wie der Gesetzgebung, der Exekutive oder den poli­tischen Parteien.

Angriffe auf die Justiz nehmen zu

Doch die Autorität des Gerichts gerät zunehmend unter Beschuss. Verfassungsrichterin Susanne Baer zeigte sich beim Mainzer Symposium „beunruhigt ob der Personalisierung, Skandalisierung, Diffamierung der Justiz und der Ressentiment-Aktivierung, die sich gegen die Richterinnen und Richter richtet“. Ob in Diskussionen, im Netz, in den Medien oder im Parlament: Die persönlichen Angriffe auf Richter nehmen zu.

Als prominentes Beispiel für Richterschelte dient US-Präsident Donald Trump. Als ein US-Bundesgericht eine Regierungsmaßnahme als rechtswidrig einstufte, diffamierte Trump die Richter auf Twitter als „Obama-Judges“. Grund genug für den Vorsitzenden des Supreme Court, sich zum ersten Mal gegenüber der Presse zu äußern: „Wir haben keine Obama-Richter oder Trump-Richter, Bush-Richter oder Clinton-Richter. Wir haben eine heraus­ragende Gruppe engagierter Richter, die ihr Bestes tun und jeden vor Gericht nach den gleichen Maßstäben des Rechts behandeln.“

Auch Italiens Innenminister Matteo Salvini (Lega) ist nicht zimperlich, wenn es um die Beurteilung von Gerichtsentscheiden geht. Der Haftrichterin, welche die deutsche „Sea-Watch“-Kapitänin Carola Rackete aus der Haft entließ, entgegnete er in den Medien, ihr Urteil sei kein Ausdruck richterlicher Unabhängigkeit, sondern „Wahnsinn“, und riet, sie möge „die Richter­robe ablegen und sich für die Linke um ein politisches Amt bewerben“.

Zweifel säen, Argwohn fördern und mit kleinen, oft unbemerkten Verwaltungsvorschriften Misstrauen wecken: Darauf verstehen sich autokratisch interessierte Parteien durchaus auch hierzulande. Doch diese „langweiligen“ Vorschriften haben es in sich: So brachte die AfD im Dezember eine Beschlussvorlage in den Bundestag ein, wonach das Bundesverfassungsgericht jede Nichtannahme einer Verfassungsbeschwerde begründen muss. Bislang steht es im Ermessen des Gerichts, ob es die Nichtannahme begründet. Mit knapp 6000 Eingängen pro Jahr ist das Gericht mehr als ausgelastet, die Erfolgsquote einer Beschwerde ist gering, meist unter drei Prozent. Was viele nicht wissen: „Über jede Beschwerde entscheidet ein mindestens dreiköpfiges Richtergremium“, erklärt Rechtswissenschaftler Konrad Duden, der selbst als Referendar am Verfassungsgericht tätig war. „Eine umfassende Begründungspflicht mag zwar zunächst sinnvoll klingen, sie würde das Gericht jedoch an seine Belastungsgrenze führen und seine Funktionsfähigkeit gefährden.“

Ergänzung des Grundgesetzes

Bleibt die Frage: Schützt denn das Grundgesetz den Rechtsstaat nicht selbst vor Übergriffen? Duden und Kunstreich sind sich einig: „Nicht genug! Eine Ergänzung des Grundgesetzes wäre sinnvoll. Bisher sind entscheidende Eckpfeiler für die Besetzung des Verfassungsgerichts dort nicht verankert. Die Richterzahl, die erforderliche Zweidrittelmehrheit für die Wahl oder aber die Amtsdauer ließen sich bei veränderten Mehrheitsverhältnissen im Bundestag qua Gesetz sehr leicht ändern.“ Wie schnell das gehen kann, zeigt nicht nur Polen, sondern auch das Beispiel USA. Dort hatten die Demokraten im Jahr 2015 für die Wahl von Bundesrichtern die Notwendigkeit einer 60-Prozent-Mehrheit zugunsten einer einfachen Mehrheit abgeschafft. Zwei Jahre später kippte die republikanische Senatsmehrheit diese höhere Hürde auch für den Supreme Court.

Einfallstore für politische Justiz gibt es auch hierzulande, aber überschreitet die Justiz nicht selbst mitunter ihre Grenzen? Im Zentrum der Kritik steht vor allem das Bundesverfassungs­gericht, das allein zur Auslegung des Grundgesetzes befugt ist. „Immer wieder wird ihm und dem Europäischen Gerichtshof vorgeworfen, sie überschritten die Grenzen zwischen Politik und Recht und mischten sich in politische Grundsatzfragen ein“, berichtet Jasper Kunstreich. Kein Wunder: „Fast alle wichtigen politischen Fragen der bundesrepublikanischen Geschichte landeten in der einen oder anderen Form auf dem Tisch der Verfassungsrichter: von der Aufarbeitung des Dritten Reichs über den RAF-Terror bis hin zur Gleichstellung homosexueller Paare“, ergänzt Konrad Duden.

Laut Verfassungsrechtler Oliver Lepsius werden Einzelfallentscheidungen des Verfassungsgerichts zu einem Teil der Rechtssetzung. Das Gericht stellt Maßstäbe auf, die in der Normenhie­rarchie zwischen Grundgesetz und Gesetz stehen. Diese Maßstäbe sind der Legislative jedoch entzogen und deshalb kaum veränderbar.

Leidet in Deutschland also der politische Prozess, weil Fragestellungen der politischen Diskussion oder Korrektur durch den Gesetzgeber entzogen werden? „Politische Anliegen über den Weg zum Bundesverfassungsgericht durchzusetzen, scheint inzwischen ein fast integraler Bestandteil des hiesigen Systems zu sein“, erkennen die Wissenschaftler Duden und Kunstreich.

Die Justiz entlastet die Politik

70 Jahre nach Einführung des Grundgesetzes zeigt sich, wie schwierig die Arbeit des Gesetzgebers mittlerweile ist. „Es gibt allenthalben Probleme, politische Mehrheiten zu finden, die Konsensfindung wird schwieriger“, beobachtet Jasper Kunstreich. Das Parteiensystem werde zersplitterter, Parteien nähmen sich zusehends als Minderheiten wahr und blockierten Entscheidungen. Gerichte füllten diese Lücke mit ihrer integrativen Kraft und ihrer Fähigkeit, die Debatte zu versachlichen. „Sie erledigen ein Stück weit parlamentarische Arbeit und entlasten die Politik“, so Kunstreich.

Vor allem dann, wenn es um brisante Themen geht, die die Stammwählerschaft vergraulen könnten. „Parteien scheinen manchmal froh zu sein, wenn sich das Verfassungsgericht der Themen annimmt, die in der Gesellschaft hoch umstritten sind“, ergänzt Duden. „Nehmen Sie die schrittweise Gleichberechtigung homosexueller Paare. Der Bundesregierung kam es dabei zupass, dass sie mit nur punktuellen Änderungen den Reformdruck abfedern und gleichzeitig darauf verweisen konnte, dass nicht man selbst, sondern ‚Karlsruhe‘ das so wolle.“

Doch schadet sich die Politik damit nicht selbst? „Das Parlament untergräbt seine eigene Autorität, wenn es sich kontroverser Themen nicht annimmt, sondern sich nur als Ausführungsorgan richterlicher Entscheidungen geriert“, bestätigt Kunstreich. „Gerichte drohen dann zum Buhmann in Diskursen zu werden, die eigentlich im Parlament zu führen sind.“ Und nicht nur dort. „Auch die Medien als vierte Gewalt, die Kulturschaffenden und die Wissenschaft sind berufen, Themen aufzugreifen und durch Kontext und Details das Wissen der Gesellschaft zu erweitern.“

Das gilt letztlich für die gesamte Gesellschaft, für uns alle. Wer eine unabhängige Justiz, einen funktionierenden Rechtsstaat will, darf auch im Jahr 71 nach Einführung des Grundgesetzes nicht müde werden, sich kundig zu machen und für diese Errungenschaften einzutreten – im Gespräch, auf der Straße und gerade auch an den Orten politischer Diskussion, die für die Verfasser des Grundgesetzes nicht vorstellbar waren: im Internet oder in sozialen Kanälen.            

         

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