Zellatlas der Leber veröffentlicht
Forscher entdecken bisher unbekannte Zelltypen in der gesunden und kranken Leber
Die Leber ist eines der größten und vielseitigsten Organe des Menschen. Sie wandelt Zucker, Eiweiße und Fette aus der Nahrung in für den Körper brauchbare Stoffe um und gibt diese bei Bedarf an die Zellen ab. Neben der Rolle im menschlichen Stoffwechsel ist die Leber ein immunologisches Organ und für die Entgiftung des Bluts unverzichtbar. Dabei fasziniert ihre erstaunliche Regenerationsfähigkeit. Als einziges inneres Organ kann sich die Leber mit nur 25 Prozent der ursprünglichen Masse wieder zu einem Organ voller Größe regenerieren.
Weltweit stellen Lebererkrankungen eines der größten Gesundheitsprobleme dar und gehören zu den häufigsten Todesursachen. Allein in Deutschland gibt es mindestens fünf Millionen PatientInnen, die an Fettleber, Leberkrebs oder Hepatitis erkrankt sind. Trotz dieser immensen Bedeutung der Leber für die menschliche Gesundheit sind die Vielfalt der einzelnen Leberzelltypen sowie damit verbundene molekulare und zelluläre Prozesse in der gesunden wie auch kranken Leber nur sehr unvollständig erforscht.
Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für Immunbiologie und Epigenetik in Freiburg haben nun zusammen mit Kollegen von der Universität Straßburg einen umfassenden Zellatlas der menschlichen Leber vorgestellt. Mithilfe der sogenannten Einzelzell-RNA-Sequenzierung gelang es den Forschern rund um den Max-Planck-Gruppenleiter Dominic Grün in Kooperation mit dem Labor von Thomas Baumert eine umfangreiche Landkarte der Zellpopulationen in der gesunden menschlichen Leber zu zeichnen. Ausgehend von der Analyse von 10000 Zellen neun menschlicher Spender kartiert der Zellatlas alle wichtigen Leberzelltypen, unter anderem wichtige Stoffwechselzellen der Leber wie Hepatozyten, Blutgefäßzellen, in der Leber residierende Makrophagen und andere Immunzellen, sowie Gallengangzellen und Vorläufer der Leberepithelzellen. Mit den Daten ist es möglich in nie da gewesener Auflösung die Vielfalt der Zelltypen und Zellstadien zu erfassen und zu verstehen, wie sie sich während Ihrer Entwicklung oder innerhalb eines Krankheitsverlaufs verändern.
Der Fingerabdruck der Zelle
Dabei entdeckten die Forscher auch eine erstaunliche Vielfalt zwischen einzelnen Zellen des vermeintlichen gleichen Zelltyps. Sie fanden neue Subtypen von Hepatozyten, Endothelzellen und Makrophagen, die sich zwar äußerlich kaum unterscheiden, aber jeweils ein eigeständiges Expressionsmuster besitzen. Möglich wurden diese Entdeckungen durch die großen Fortschritte der Einzelzell-Analysemethoden, durch die Zellen in einer hochauflösenden Genauigkeit untersucht werden können.
Bei der Einzelzell-RNA-Sequenzierung wird das zu untersuchende Organgewebe in einzelne Zellen aufgeteilt, diese Zellen dann isoliert und separat sequenziert. Mithilfe der Sequenzierung wird gemessen, wie viele Boten-RNA-Moleküle (mRNA) eines jeden Gens in der Zelle vorhanden sind. „Die Boten-RNA übermittelt die in der DNA gespeicherten Baupläne an die Proteinfabriken. Indem wir messen, welche RNA-Moleküle zu einem bestimmten Zeitpunkt in einer Zelle vorhanden sind, erkennen wir, welche Gene aktiv sind. Dadurch erhalten wir eine Art Fingerabdruck, der uns einen umfassenden Einblick in das Wesen der individuellen Zelle bietet. Wir können so verstehen, welche Funktionen die Zelle übernimmt, wie sie reguliert wird, und auch was passiert, wenn Krankheiten entstehen“, erläutert Dominic Grün das Prinzip der Einzelzell-Analyse.
Die auf diese Weise gewonnenen Daten sind nicht nur äußerst umfangreich, sondern auch sehr komplex, da die RNA-Moleküle von tausenden Genen in tausenden von Zellen gleichzeitig quantifiziert und interpretiert werden müssen. Hierfür entwickelte Dominic Grün in den letzten Jahren maßgeschneiderte Algorithmen, mit denen er und sein Team die verschiedenen Zelltypen charakterisieren sowie ihre Entwicklungswege nachvollziehen können.
Identifizierung von Vorläuferzellen in der Leber
Mithilfe eines solchen Fingerabdrucks der Zellen identifizierten die Freiburger Forscher auch bisher unbekannte Eigenschaften einer Subpopulation von Zellen des Gallengangs. Gallengänge durchziehen die gesamte Leber, um Gallenflüssigkeit zur Gallenblase zu leiten. „Bei dieser seltenen Subpopulation zeigen unsere Daten, dass die Zellen im Prinzip noch Vorläuferzellen sind. Sie sind nicht nur in der Lage Organoide, also winzig kleine Organvorstufen, zu bilden, sondern haben auch das Potential sich zu verschiedenen Zelltypen weiterzuentwickeln,” erläutert Nadim Aizarani, Erstautor der Studie. Kultiviert in Nährmedium, differenzieren sich diese Vorläuferzellen entweder zu Hepatozyten oder zu Gallengangzellen. Die Max-Planck-Forscher sind überzeugt, dass diese bisher unbekannte Vorläuferzellpopulation eine wichtige Rolle bei der Leberregeneration spielt und zudem bei der Entstehung von Leberkrankheiten oder auch Tumoren beteiligt sein könnte.
Referenzdaten für Krebspatienten
Der Zellatlas und die Methode der Einzelzellsequenzierung bergen dementsprechend eine großes Potential für die Krebstherapie. Bisherige Analysemethoden von krankem Gewebe, etwa Tumorgewebe, lieferten stets nur einen Durchschnittswert der Konzentration aktiver Gene für die gesamte Gewebeprobe und somit auch nur einen durchschnittlichen Überblick über das molekulare Profil eines Tumors. „Der Beitrag seltener Zelltypen oder gar einzelner Zellen geht dabei im ermittelten Durchschnittswert bisheriger Analysemethoden unter, obwohl vielleicht genau diese wenigen Zellen entscheidend dafür sind, ob eine Gewebe gesund ist oder zu einem Krebsgeschwür entartet,” erläutert Dominic Grün.
Die Einzelzellsequenzierung hingegen erfasst die molekulare Signatur jeder gesunden oder auch kranken Zelle in der zu untersuchenden Probe. Durch den Vergleich mit Referenzdaten gesunden Gewebes können gezielt die krankmachenden molekularen Eigenschaften von Tumorzellen identifiziert werden, um zukünftig verbesserte Behandlungsmöglichkeiten zu entwickeln.
Dass der nun veröffentlichte Zellatlas der menschlichen Leber ein wichtige Referenzdatenbank bei der Erforschung von Leberkrebs darstellen wird, haben die Freiburger und Straßburger Forscher bereits demonstrieren können. Sie verglichen die Daten des gesunden Gewebes aus dem Zellatlas mit Zellen aus hepatozellulären Karzinomen, der häufigsten Form von primärem Leberkrebs. Der Vergleich ermöglicht Rückschlüsse auf neue Tumormarker und gestörte Genaktivitätsmuster verschiedener Zelltypen innerhalb des Tumors. „Ich denke, dass die Erforschung von Krebs mithilfe der Einzelzellsequenzierung uns dabei helfen wird, Diagnose und Therapie von Tumoren weiter zu verbessern. Zukünftig werden wir nicht nur mögliche Wechselwirkungen zwischen den verschiedenen Zelltypen in Tumoren offenlegen können, sondern es wird auch möglich sein, diese Wechselwirkung im Verlauf der Krankheit zu beobachten und zu erkennen wie PatientInnen ganz konkret auf Behandlungen auf zellularer und molekularer Ebene ansprechen,” erläutert Dominic Grün.
Die Forscher sind überzeugt, dass mit Ihrem Zellatlas der menschlichen Leber sowie ihren Methoden eine wichtige Grundlage innerhalb der Biomedizin gelegt wird, die die Erforschung und das Verständnis von Lebererkrankungen auf molekularer Ebene voranbringt, um in Zukunft möglicherweise neue therapeutische Strategien gegen Lebererkrankungen zu entwickeln.
Human Cell Atlas
Das Projekt von Dominic Grün und seinem Labor aus Freiburg ist Teil des „Human Cell Atlas“ (Menschlicher Zellatlas). Dieses wissenschaftliche Großvorhaben haben im Oktober 2016 international führende Forscher und Forscherinnen ins Leben gerufen mit dem Ziel, die Gesamtheit aller menschlichen Zelltypen zu entziffern. Der Atlas soll eine genaue Übersicht darüber liefern, welche Gene, Proteine und sonstige Moleküle in welchem Zelltyp aktiv sind, wo genau die Zellen lokalisiert sind, wie die Zellen im gesunden Körper miteinander interagieren und welche Veränderungen in Zellen auftreten, wenn der Organismus erkrankt. Das Human Cell Atlas-Projekt wird zum Teil von der Initiative des Facebook-Gründers Mark Zuckerberg und seiner Frau Priscilla Chan finanziert und beinhaltet nicht nur die bloße Kartierung menschlicher Zellen, sondern hat darüber hinaus auch den Anspruch, experimentelle Technologien und computergestützte Analysemethoden weiterzuentwickeln, um ein vertieften Verständnis der menschlichen Biologie zu erarbeiten.