„Immer mehr Frauen erheben ihre Stimme“

In Brasilien geht der Kampf um Frauenrechte gerade in eine neue Runde

Seit Januar dieses Jahres regiert in Brasilien mit Jair Bolsonaro ein Präsident, der offen frauenfeindlich auftritt. Sehr zum Ärger vieler Brasilianerinnen, die seit langem für Gleichberechtigung kämpfen. Schon im 17 Jahrhundert litten Frauen unter Kolonialgesetzen und mussten erfinderisch sein, um benachteiligende Regelungen zu umgehen. Luisa Stella Coutinho vom Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte befasst sich mit Vergangenheit und Gegenwart von Frauenrechten in Brasilien. Sie hat zu allen Zeiten Beispiele von starken Frauen gefunden, die sich für Veränderungen einsetzen.

In Deutschland feiern wir in diesem Jahr 100 Jahre Frauenwahlrecht. Wie war die Entwicklung in Brasilien?

Luisa Stella Coutinho: Grundsätzlich ist die Geschichte Brasiliens eng mit der Geschichte Portugals als Kolonialmacht verbunden, allerdings wurde Brasilien relativ früh unabhängig: 1822 erklärte der Sohn des damaligen portugiesischen Königs die Unabhängigkeit Brasiliens und übernahm die Herrschaft über das Land. 1891 wurde Brasilien dann eine Republik. In der Entwicklung des Frauenwahlrechts war – ähnlich wie in Europa – der Beginn des 20. Jahrhunderts eine entscheidende Zeit. Schon am Ende des 19. Jahrhunderts hatten sich Frauen in Brasilien zunehmend organisiert, um für ihre Rechte zu kämpfen, besonders im Kampf gegen die Sklaverei.

Wer hat die Frauenbewegung in Brasilien angeführt?

Enorm wichtig war die Biologin Bertha Lutz: Die Nachfahrin Schweizer Einwanderer hatte in Paris und Rio de Janeiro studiert und gründete 1922 die erste Frauenbewegung "Federação Brasileira pelo Progresso Feminino". Im selben Jahr organisierte sie auch einen ersten internationalen Frauenkongress in dem Land. Und sie arbeitete in der Vorbereitungskommission für die neue Verfassung mit. 1932 erhielten die Frauen in Brasilien das Wahlrecht.

Bei der Gründung der Vereinten Nationen 1945 spielte Bertha Lutz wieder eine prominente Rolle. Sie war Teil der brasilianischen Delegation, die die UN-Gründungscharta unterschrieb: 156 Männer aus aller Welt setzten ihre Unterschrift unter das Dokument und nur vier Frauen, eine davon war die Brasilianerin Lutz.

Sie kommen aus Paraiba, einem Bundesstaat im Nordosten Brasiliens und haben erforscht, wie sich das portugiesische Kolonialrecht auf die Frauen dort auswirkte...

Rechtsgeschichte kann nicht nur die Geschichte der der geschriebenen Gesetze sein. Man muss sich auch anschauen, wie das Recht in die Praxis umgesetzt wurde – auch das schlägt sich ja in Akten und Dokumenten nieder. Ein Beispiel: Im 17. Jahrhundert verbot der König von Portugal den Bau von Frauenklöstern in Brasilien. Der Grund hierfür war, dass die portugiesischen, weißen Frauen dem Heiratsmarkt in Brasilien zur Verfügung stehen sollten. Doch die Frauen in Paraiba entwickelten eine Umgehungsstrategie, sie richteten so genannte "Recolhimentos" ein, eine Art von Gemeinschaftshäusern von und für Frauen. In ihnen konnten Frauen zum Beispiel im Fall einer Scheidung Unterschlupf finden. Aber es war auch ein Ort, an dem Frauen unverheiratet zusammenleben konnten.

In den Archiven gibt es jede Menge Schreiben von Frauen aus Paraiba an den König von Portugal, die um Spenden für diese Einrichtungen baten oder die Erlaubnis zur Errichtung neuer Häuser erhalten wollten. Die Akten zeigen, dass die Frauen der weißen europäischen Oberschicht nicht in ihren Häusern saßen und darauf warteten, geheiratet zu werden – sie handelten selbst!

Wie sieht es historisch mit den Rechten der indigenen Bevölkerung in Brasilien aus, mit den Rechten indigener Frauen zum Beispiel?

Da sieht man bis heute Spuren der Kolonialvergangenheit. Eine der Methoden, die die Portugiesen anwandten, um die neue Welt zu kolonisieren, war die christliche Missionierung der indigenen Bevölkerung. Verschiedene Stämme wurden in "aldeias", in Dörfern, zusammengepfercht und das Land unter den Portugiesen aufgeteilt. 1755 erließ der König ein Gesetz über "Miscigenação", das heißt so viel wie "Rassenmischung": Es erlaubte portugiesischen Männern, indigene Frauen zu heiraten und versprach, Kinder aus diesen Ehen nicht zu diskriminieren. Mit dieser Machtstrategie wurde es möglich, die Indigenen zu unterteilen in „gute Indianer“, die kooperieren wollten, und „schlechte Indianer“, die Widerstand leisteten und gegen die man einen "gerechten Krieg" führen musste. Und natürlich war das auch eine Vorgehensweise, um in den Besitz des Landes zu kommen und es zu kontrollieren. Bis heute ist die Anerkennung der Landrechte von Indigenen eine sehr komplizierte Sache im brasilianischen Parlament.

Die koloniale Geschichte wirkt also heute noch nach?

Ja, auch den Rassismus heutzutage kann man nicht ohne Rückblick auf die Vergangenheit verstehen. Offiziell wurde die Sklaverei 1888 in Brasilien abgeschafft. Kürzlich war in den Sozialen Medien ein Foto von der Geburtstagsfeier der Chefin der brasilianischen Ausgabe des Modemagazins "Vogue" zu sehen: Es zeigt sie umgeben von afroamerikanischen Frauen in der typischen Kleidung der Baianas, der Bewohnerinnen des Staates Bahia. Es gab wütende Proteste, denn viele Menschen fühlten sich an die Kolonialzeit erinnert, in der Frauen als Sklavinnen in den Häusern der weißen Oberschicht arbeiten mussten.

Und es ist alles andere als Zufall, dass erst in diesem Jahr eine Afroamerikanerin zum ersten Mal die wichtigste brasilianische TV-Nachrichtensendung moderiert hat. Sie hat jede Menge Hasskommentare bekommen!

Und wie beurteilen Sie die Situation heute? Der neue brasilianische Präsident Jair Bolsonaro tritt offen frauenfeindlich auf...

Jair Bolsonaro verkörpert all das, wogegen die brasilianische Frauenbewegung gekämpft hat und noch kämpft. Er hat beispielsweise öffentlich im Parlament gesagt, eine Abgeordnete der oppositionellen Partei „Partido dos Trabalhadores“ sei so hässlich, dass er sie nicht einmal vergewaltigen würde. Dafür wurde er zu einer Entschädigungszahlung verurteilt. Im Wahlkampf hat er gegen Afroamerikaner und Indigene gehetzt, zum Beispiel hat er behauptet, dass Bewohner der „Quilombolas“ – Wohnsiedlungen der Nachfahren von geflohenen Sklaven – nur rumsäßen und fett würden. Sie seien es nicht wert, sich fortzupflanzen.

Es waren Frauen, die im Wahlkampf die Proteste gegen Bolsonaro angeführt haben, unter dem Slogan: „Ele não!“ („nicht ihn“). Sie haben massiv gegen ihn mobilisiert. Allerdings gibt es auch Frauen, die Bolsonaro gewählt haben, so wie in den USA bei Trump.

Das klingt deprimierend…

Es ist nicht alles zum Verzweifeln in Brasilien, es gibt auch Hoffnungszeichen: Bei der letzten Wahl wurde zum ersten Mal eine indigene Frau ins Parlament gewählt, Joenia Wapichana. Außerdem sind mehr afroamerikanische Frauen aus nicht privilegierten Verhältnissen ins Parlament gewählt worden. Immer mehr Frauen erheben ihre Stimme gegen Armut, Unterdrückung und Gewalt. 

Das Interview führte Tina Heidborn.

Weitere interessante Beiträge

Zur Redakteursansicht