Kulturentwicklung: Eine Million Künstler können nicht irren
Ein gemeinschaftliches Kunstprojekt auf der Internetplattform Reddit enthüllt die Struktur kultureller Veränderung
Wissenschaftler vom Max-Planck-Institut für Menschheitsgeschichte in Jena haben die beliebte Internetplattform Reddit genutzt, um zu untersuchen, wie sich Kultur entwickelt. Ein Online-Kunstprojekt auf Reddit, das über eine Million Teilnehmerinnen und Teilnehmer angezogen hatte, bot Thomas Müller und James Winters die Gelegenheit, die Dynamik kultureller Veränderungen nachzuvollziehen. Die beiden erforschen im Rahmen der Minds and Traditions (Mint)-Forschungsgruppe am Jenaer Institut die Entstehung und Evolution graphischer Codes.
Reddit hatte für drei Tage eine digitale „Leinwand“ eröffnet, auf der jeder Nutzer in einer gewissen Zeitspanne nur ein einzelnes Pixel platzieren konnte. Die Leinwand füllte sich schnell mit Tausenden von Bildern. Kleine Gruppen mussten lernen zusammenzuarbeiten oder rivalisierende Teams zu verdrängen. In ihrer Untersuchung haben die Wissenschaftler gezeigt, dass die Leinwand mit der Zeit strukturierter wurde und dass die Kunstwerke zum Überleben mehr und mehr voneinander abhängig wurden, besonders als der Platz auf der Leinwand knapp wurde.
Die Ergebnisse bestätigen die Sichtweise, dass kultureller Wandel einer Logik folgt, die biologischer Anpassung ähnelt. Erfolgreiche Individuen sind gut darin, ihre Territorien zu verteidigen, aber Kooperation ist der Schlüssel zum Erfolg. „Es ist ein wenig wie bei Bakterien in einer Petrischale“, sagt Autor Thomas Müller. „Mit begrenztem Platz und Ressourcen bilden die Kunstwerke letztendlich eine Art stabiles Ökosystem.“
Aber genauso wie die Natur kann auch die Kultur grausam sein. Der Nationalstolz der Internetnutzer wird in vielen Kunstwerken mit Nationalsymbolen deutlich zur Geltung gebracht. Australier, Esten, Inder, Amerikaner und viele andere setzten ihre Flaggen und verteidigten ihr digitales Territorium mit Geschick und Enthusiasmus.
Am Ende des ersten Tages brach ein „Krieg“ zwischen den Abbildungen der deutschen und der französischen Flagge aus. Eine „Waffenruhe“ wurde erst erreicht, als überschüssige deutsche Pixel in eine EU-Flagge umgestaltet wurden. „Das ist ein schönes Beispiel dafür, wie sich die Koexistenz rivalisierender Gruppen in adaptiven graphischen Strukturen widerspiegelt“, sagt dazu Co-Autor James Winters. „Als ob man sagen würde ‚Wir kommen getrennt besser aus als miteinander, aber wenn du einen Teil von mir beschützt und ich einen Teil von dir, werden wir insgesamt beide sicherer sein.‘“
PM/MEZ