„Die Zukunft offen halten“
Interview mit dem Soziologen Akos Rona-Tas über Wirksamkeit und Nebenwirkungen von Prognosen
Seit jeher versuchen Menschen, die Zukunft vorherzusehen: aus Träumen, aus den Sternen oder mithilfe von Karten und Würfeln. Heute scheinen die Bedingungen für verlässliche Vorhersagen dank großer Datenbanken und computergestützter Auswertung besser denn je. Akos Rona-Tas warnt jedoch vor zu viel Vertrauen in die neuen Prognosetechniken. Der Soziologieprofessor an der University of California San Diego, der im Sommersemester 2018 Scholar in Residence am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln war, befasst sich mit den Schattenseiten moderner Wahrsagung.
Herr Rona-Tas, macht das Handwerk der Prognose oder die Wissenschaft davon heute noch Fortschritte?
Akos Rona-Tas: Es ist paradox: Auf der einen Seite haben wir Zugriff auf immer mehr Daten und auf immer bessere Tools, um diese zu analysieren. Auf der anderen Seite erleben wir, dass Prognosen immer wieder dramatisch danebenliegen. Dass zum Beispiel die deutsche Fußballnationalmannschaft so früh aus der WM 2018 ausscheiden würden, konnte niemand vorhersehen. Oder die Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten: Dass die Meinungsforscher Trumps Wahlsieg bis zum Schluss fast durch die Bank für unmöglich gehalten hatten, war eine arge Schlappe für die gesamte Branche.
Wie erklären Sie sich dieses Paradox?
Zum einen gibt es Gebiete, auf denen Prognosen besser funktionieren, und Gebiete, auf denen sie dies schlechter tun. Zu letzteren zählt der Ausgang von Fußballspielen. Ein Zufallstor kann einem Spiel eine völlig unerwartete Wendung geben. Das ist nicht überall im Sport so. Beim Baseball beispielsweise ist es viel einfacher, Erfolgsfaktoren zu quantifizieren. Fußball ist auch, mehr als Baseball, ein Teamsport. Das erhöht die Komplexität. Wenn eine Baseballmannschaft einen exzellenten Fänger oder Werfer hat, dann hat sie allein deshalb schon gute Siegeschancen. Ganz anders sieht es aus, wenn ein Messi oder ein Ronaldo in einer Nationalmannschaft antritt, die als Team überhaupt nicht eingespielt ist. Allgemeiner gesprochen: Komplexität ist einer der entscheidenden Faktoren dafür, wie genau Prognosen sein können. Lokale Ereignisse oder Teilsysteme können wir tatsächlich in der Tendenz immer besser prognostizieren. Aber im globalen Maßstab versagen die Modelle. Wir haben das in der Finanzkrise erlebt. Die einzelnen Segmente des Finanzsystems lassen sich gut kontrollieren. Kleinere Fehler haben hier oft keine gravierenden Auswirkungen Aber im Zusammenspiel der einzelnen Segmente, auf der systemischen Ebene, entsteht dennoch Instabilität. Wie bei einem Auto, das man auf einer Straße, die schnurgerade durch eine Ebene läuft, mit einer sehr simplen Fahrautomatik einfach immer geradeaus fahren lässt. Irgendwann landet das Auto trotzdem im Graben - weil die Straße doch nicht hundert Prozent gerade ist oder weil die Fahrautomatik nur innerhalb einer bestimmten Fehlermarge exakt arbeitet.
Welche anderen Faktoren spielen eine Rolle?
In manchen Gebieten, so zum Beispiel auch bei den Finanzmärkten, kommt hinzu, dass Prognosen den Effekt von selbsterfüllenden Prophezeiungen haben. Dieser Effekt verzerrt die Resultate. Ich möchte es eigentlich lieber anders als eine Verzerrung beschreiben. Ich begreife Prognose grundsätzlich nicht als ein Messinstrument, so wie eine Kamera, mit der man die Zukunft mit mehr oder weniger Verzerrungen ablichtet, sondern als eine Maschine, die selbst gesellschaftliche Realitäten erzeugt. So betrachtet, ist es nicht weiter verwunderlich, dass es der Prognose nicht gelingt, die Zukunft immer genauer abzubilden. Mein Interesse als Soziologe gilt genau diesem Zusammenspiel zwischen Prognosetechniken und den durch Prognose geschaffenen gesellschaftlichen Realitäten.
Zum Beispiel?
Wir betrachten heute die Zukunft quasi als Fortsetzung der Vergangenheit. Wenn man als Kunde von Amazon Empfehlungen für Bücher oder andere Produkte erhält, die ja nichts anderes sind als Prognosen dafür, was einem gefallen könnte, dann gehört es zum System, dass diese Empfehlungen nur wenige Überraschungen bereit halten. ‚Mehr vom Gleichen‘ ist das Motto, nach welchem der Empfehlungsalgorithmus funktioniert. Ebenso funktioniert die Prognose von Kreditwürdigkeit durch die SCHUFA-Auskunft oder die Nutzung von Prognoseinstrumenten durch die Kriminalpolizei, etwa um Einbrüche oder andere Straftaten ‚vorherzusagen‘ und als Reaktion darauf die Sicherheitsmaßnahmen zu erhöhen.
War das nicht immer so?
Nein, überhaupt nicht. Wenn man die Geschichte des Prognosehandwerks im Zeitraffer betrachtet, dann beginnt diese mit charismatischen Wahrsagern, die ihre Informationen direkt von den Göttern beziehen. Später treten an die Stelle dieser besonderen Fähigkeit dann Wahrsagemethoden, die sich routinemäßig quasi von jedermann anwenden lassen, so wie zum Beispiel das Legen von Tarotkarten. Bei den Tarotkarten bestimmt noch der Zufall den Inhalt der Prognose. Heute sind es, wie gesagt, beobachtete Gesetzmäßigkeiten von zeitlich zurückliegenden Ereignissen, aus denen wir unsere Prognosen ableiten. Parallel dazu hat sich unser wissenschaftliches Weltbild entwickelt. Mit Newton haben wir gelernt, dass Vergangenheit und Zukunft nur verschiedene Punkte auf einer Zeitachse darstellen, dabei aber gleichermaßen real oder präsent sind. „Raum-Zeit-Kontinuum“ hat Einstein das später genannt. Für Newton und Einstein sind Vergangenheit und Zukunft im Grunde nur Fiktionen. Diese physikalische Theorie liefert das weltanschauliche Gegenstück zu den modernen Prognosetechniken. Etwas Neues kann in diesen Modellen quasi gar nicht passieren, weil alles, was die Zukunft bringt, bereits in der Gegenwart existiert.
Gibt es denn eine Alternative?
Ich halte es tatsächlich für eine offene Frage, wie weit wir akzeptieren sollten, dass Prognosen auf dem Wege von selbsterfüllenden Prophezeiungen unsere Zukunft bestimmen. Ein Beispiel: Die SCHUFA ist eine etablierte Praxis. Aber möchten wir so etwas haben wie beim „Sesame Credit“ in China, bei dem nicht nur persönliche Finanzdaten, sondern auch das individuelle Konsumverhalten oder Aktivitäten in Sozialen Medien dazu herangezogen werden, die Vertrauenswürdigkeit von Bürgern nach einem Punktesystem zu beurteilen? Will man, dass auch staatliche Behörden diese Daten nutzen? Ich glaube nicht! Nicht nur aus Gründen des Datenschutzes oder der drohenden Diskriminierung, sondern auch, weil wir uns damit die grundsätzliche Offenheit der Zukunft verspielen.
Interview: Ralf Grötker