Nur wer wählt, zählt?
Die politischen Entscheidungen des Bundestags sind systematisch zulasten der Armen verzerrt
Schlagen sich Unterschiede in der politischen Beteiligung und im Wahlverhalten auch in politischen Entscheidungen nieder? Werden die Präferenzen und Wünsche der aktiven Wähler systematisch stärker berücksichtigt als die der Nicht-Wähler? Lea Elsässer vom Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung und Armin Schäfer von der Universität Osnabrück gehen diesen Fragen nach.
Text: Lea Elsässer und Armin Schäfer
Seit einigen Jahren wird in Deutschland von der "Zwei-Drittel-Demokratie" (Wolfgang Merkel) gesprochen, bei der das untere Drittel der Gesellschaft zunehmend darauf verzichtet, an Wahlen teilzunehmen oder sich anderweitig politisch zu engagieren. Und tatsächlich weisen empirische Studien eine wachsende Kluft in der politischen Beteiligung nach. Gab es zwischen Einkommensgruppen, beispielsweise bei Bundestagswahlen, noch in den 1980er-Jahren nur geringe Unterschiede in der Wahlbeteiligung, haben diese seither stetig zugenommen. Während Menschen mit hohem Einkommen weiterhin mit großer Wahrscheinlichkeit wählen, gilt dies für Einkommensarme zu einem sehr viel geringerem Grad (Abb. 1). Weitgehend unerforscht war bislang, ob sich derartige Beteiligungsunterschiede auch in politischen Entscheidungen niederschlagen, sodass die Präferenzen und Wünsche der Aktiven systematisch stärker berücksichtigt werden als die der Inaktiven. In einem Forschungsprojekt, das wir an der Universität Osnabrück und dem Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung durchführen, gehen wir dieser Frage nach.
Wollen unterschiedliche soziale Gruppen auch Unterschiedliches?
Um zu verstehen, ob politische Entscheidungen verzerrt sind, muss in einem ersten Schritt erhoben werden, ob unterschiedliche soziale Gruppen auch Unterschiedliches wollen. Denn es ließe sich argumentieren, dass ungleiche politische Partizipation kein demokratietheoretisches Problem darstellt, solange es keine systematischen Unterschiede in den politischen Ansichten zwischen unteren und oberen Einkommensgruppen gibt. Aber die eigene Einkommenssituation prägt, wie politische Probleme wahrgenommen und welche Reformen als sinnvoll erachtet werden. Während eine Rentenkürzung für die einen das Risiko von Altersarmut deutlich erhöht, bedeutet sie für andere allenfalls einen Verzicht auf den zweiten Jahresurlaub. Auch beim Zahnarztbesuch oder bei Medikamenten muss heute vieles aus der eigenen Tasche bezahlt werden. Für Menschen mit niedrigem Einkommen kann das eine Hürde sein, die sie von einer guten Gesundheitsvorsorge abhält. Deshalb verwundert es nicht, dass arme und reiche Bevölkerungsschichten bei vielen grund sätzlichen Themen unterschiedliche Auffassungen haben.
Um den Zusammenhang zwischen der Einkommenssituation und den politischen Präferenzen systematisch zu untersuchen, haben wir gemeinsam mit unserer Kollegin Svenja Hense rund zweihundertfünfzig Sachfragen aus dem Zeitraum von 1998 bis 2013 ausgewertet, bei denen es um die Zustimmung oder Ablehnung zu konkreten Reformvorschlägen in Deutschland ging. Dabei wird deutlich: Je größer der Abstand zwischen den Einkommen ist, desto höher sind auch die durchschnittlichen Einstellungsunterschiede (Abb. 2).
Bundestagsentscheidungen und politische Präferenzen in der Bevölkerung
Im zweiten Schritt der Untersuchung geht es darum, zu klären, ob die politischen Entscheidungen des Bundestages stärker mit den Präferenzen der Armen oder mit denen der Reichen übereinstimmen. Dabei greifen wir eine internationale politikwissenschaftliche Debatte auf, die sich vor allem an Forschungsergebnissen zu den USA entzündet hat. In den Vereinigten Staaten ist nicht nur die Wahlbeteiligung sehr ungleich verteilt, sondern politische Entscheidungen spiegeln ganz überwiegend die Wünsche der Reichen wider. Diese Schieflage ist besonders ausgeprägt, wenn Arme und Reiche Unterschiedliches wollen. Als zentraler Mechanismus, der zu dieser Ungleichheit führt, wird die Abhängigkeit der Politik von Wahlkampfspenden angesehen.
In Deutschland ist der Einfluss von privaten Spendern auf die Parteien viel geringer. Wahlkämpfe kosten nicht nur sehr viel weniger, sondern der größte Teil davon wird auch öffentlich finanziert. Daher könnte man vermuten, dass politische Entscheidungen in Deutschland weniger verzerrt sind. Um das zu überprüfen, haben wir für die von uns untersuchten Sachfragen erhoben, ob die darin abgefragten Reformen innerhalb von zwei Jahren politisch umgesetzt wurden oder nicht. Über die aktuellsten untersuchten Fragen wurde demnach 2015 entschieden. Die Vorschläge umfassen ein breites Spektrum von politisch relevanten Themen: Fragen zur Einführung eines flächendeckenden Mindestlohns oder Hartz IV sind darin ebenso enthalten wie Fragen nach einer gesetzlichen Frauenquote in Führungsetagen von Unternehmen oder dem Adoptionsrecht gleichgeschlechtlicher Paare. Für jede dieser Fragen haben wir durch die Auswertung von Umfragen ermittelt, wie hoch die Zustimmung bei Menschen mit niedrigem, mittlerem oder hohem Haushaltseinkommen ausfiel.
Die Reichen, die in der Untersuchung erfasst werden, sind allerdings in der Regel keine Supervermögenden mit Yacht, Privatjet und Villa. Nach gängiger Definition gilt in Deutschland als reich, wer als Einzelperson über ein Nettoeinkommen von mehr als 3.500 Euro verfügt. Dies traf 2015 auf gut acht Prozent der Bevölkerung zu. Diese Gruppe läuft weder mit einem Koffer voller Geld durch das Berliner Regierungsviertel und erkauft sich die Politik, die sie haben möchte, noch finanziert sie die Wahlkämpfe der Parteien. Dennoch zeigt sich, dass eine Politikänderung sehr viel wahrscheinlicher ist, wenn eine große Mehrheit dieser Gruppe sie befürwortet.
Eine Politikänderung ist sehr viel wahrscheinlicher, wenn eine große Mehrheit der Reichen sie befürwortet
Für Menschen mit geringem Einkommen wird dagegen kein Zusammenhang zwischen der Stärke der Unterstützung für eine Politikänderung einerseits und ihrer Verwirklichung andererseits deutlich. Wie politisch entschieden wird, ist unabhängig davon, ob viele oder wenige arme Bürger eine Reform befürworten. Dieses Muster verstärkt sich sogar noch, wenn die Meinungsunterschiede zwischen Armen und Reichen groß sind. In Abbildung 3 ist für hohe und niedrige Einkommensgruppen der Zusammenhang zwischen der Zustimmung zu einer Politikänderung und der Wahrscheinlichkeit, dass diese auch eintritt, abgetragen – allerdings nur für die Sachfragen, bei denen die Einstellungen zwischen Befragten mit hohem und niedrigem Einkommen um mehr als zehn Prozentpunkte voneinander abweichen. Bei diesen Fragen sinkt sogar die Wahrscheinlichkeit, dass eine Politikänderung umgesetzt wird, wenn ein hoher Anteil ärmerer Befragter sie befürwortet. Die Verkäuferin im Supermarkt oder der Fensterreiniger erleben also viel seltener, dass ihre Anliegen vom Bundestag umgesetzt werden, als die Hochschulprofessorin oder der Besitzer einer gut laufenden Anwaltskanzlei.
Dabei betreffen die Unterschiede zwischen den Einkommensgruppen keine nebensächlichen Fragen. So spricht sich immer wieder eine Mehrheit der Einkommensärmeren gegen die Hartz-Reformen oder die Stärkung der privaten Altersvorsorge aus. In wirtschaftlichen Krisenzeiten befürworten sie stärkere staatliche Eingriffe, etwa durch Konjunkturpakete. Auch die Vermögenssteuer, die Forderung nach Asyl für Edward Snowden oder ein schneller Abzug aus Afghanistan finden in den unteren Einkommensgruppen eine Mehrheit, in den oberen dagegen nicht.
Verletzung des demokratisch-liberalen Gleichheitsversprechens
Wenn nicht alle Gruppen dieselbe Chance haben, dass ihre Anliegen im politischen Prozess berücksichtigt werden, wird das Gleichheitsversprechen liberaler Demokratien verletzt. Die Ursache für ungleiche Responsivität liegt nicht darin begründet, dass die Armen das objektiv Falsche wollen. Untere Einkommensgruppen sprechen sich weder für utopische noch für unfinanzierbare oder gar ethisch anstößige Vorschläge aus. Die ausgewerteten Sachfragen beruhen häufig auf Reformvorschlägen der Regierung oder einer Bundestagsfraktion und würden fast nie eine Grundgesetzänderung notwendig machen. Welche Ideen davon umgesetzt werden, ist eine Frage des politischen Willens. Ein konstant hohes Rentenniveau mag beispielsweise Steuererhöhungen notwendig machen, alternativlos ist seine Absenkung deswegen aber keineswegs. Für die meisten politischen Entscheidungen gibt es nicht die eine richtige Lösung, weil Menschen berechtigterweise Unterschiedliches wollen. Spiegeln Entscheidungen dauerhaft einseitig die Präferenzen einer Gruppe wider, liegt ein Repräsentationsdefizit für alle anderen vor.
Die empirische Untersuchung der Entscheidungen des Bundestages erhärtet das Bild einer Gesellschaft der politisch Ungleichen. Menschen mit niedrigem Einkommen partizipieren nicht nur seltener, sondern die vom Deutschen Bundestag getroffenen Entscheidungen spiegeln auch in viel geringerem Maß ihre Präferenzen wider als die der Bessergestellten. Diese Schieflage der Responsivität ist im Bereich der Wirtschafts- und Sozialpolitik besonders ausgeprägt und führt zu Entscheidungen, die stark über das von Teilen der Bevölkerung gewünschte Maß an Liberalisierung hinausgehen. So wird der Markt zulasten einer ungleichheitsreduzierenden Politik gestärkt. Ungleiche Responsivität stärkt individuelle Rechte und den Wettbewerb, schwächt jedoch Formen kollektiver Sicherung. Wer auf letztere angewiesen ist, wird sich durch diese Politik nicht vertreten fühlen.