Nichteheliche Geburten: Deutschland auf Dauer geteilt
Geburten ohne Trauschein sind in Ostdeutschland die Norm – ganz anders als im Westen. Dieser Unterschied hat historische Wurzeln weit vor 1945. Er wird noch lange bleiben.
Auch 25 Jahre nach dem Fall der Mauer verläuft die Familiengründung in Ost und West grundlegend anders: Während die meisten Geburten in den neuen Ländern nichtehelich sind (59 Prozent), ist deren Anteil in den alten Ländern nicht einmal halb so hoch (28 Prozent, jüngste Zahlen für 2012). Dieser Unterschied dürfte bis auf Weiteres bestehen bleiben. Anders als oft geglaubt, ist er nicht durch die deutsche Teilung entstanden. Schon Ende des 19. Jahrhunderts, lange vor Gründung der DDR, wurden im Osten anteilig mehr Paare ohne Trauschein Eltern als im Westen.
Das belegt eine neue Studie im Wissenschaftsjournal „Population, Space and Place“, für die Sebastian Klüsener, Wissenschaftler am Max-Planck-Institut für demografische Forschung (MPIDR) in Rostock, Daten zu nichtehelichen Geburten in deutschen Regionen über die letzten 350 Jahre analysiert hat.
Ost-West-Unterschiede entstanden nicht durch deutsche Teilung
„Die Unterschiede bei den nichtehelichen Geburten sind ein Phänomen, das lange vor der deutschen Teilung entstand“, sagt Sebastian Klüsener. Die abweichenden politischen, wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen in Ost und West zwischen 1945 und 1990 hätten die Differenzen zwar erheblich verstärkt, aber nicht hervorgerufen.
Anhand der historischen Regionaldaten belegt Klüsener, dass erste Unterschiede bereits im 18. Jahrhundert auftraten. Im späten 19. Jahrhundert lag in weiten Teilen Westdeutschlands der Anteil der nichtehelichen Geburten zwischen zwei und acht Prozent, während im Gebiet des heutigen Ostdeutschlands zwölf Prozent aller Kinder ohne vorherige Hochzeit zur Welt kamen.
Die Quote stieg in den 1920ern in den Regionen der künftigen DDR auf bis zu 18 Prozent und im Westen auf neun Prozent. Im folgenden Jahrzehnt gingen die nichtehelichen Geburten zwar zurück, da die nationalsozialistische Familienpolitik vor allem verheiratete Paare unterstützte. Dennoch blieb die Differenz: 1937 lag der Westen bei durchschnittlich sechs und der Osten bei zehn Prozent.
Deutsch-deutsche Andersartigkeiten bleiben
„Die lange Geschichte dieser Unterschiede lässt vermuten, dass sie nicht innerhalb der nächsten Jahrzehnte verschwinden werden“, sagt Demograf Klüsener. Warum haben sich Ost und West historisch so anders entwickelt? Während die ostdeutsche Landwirtschaft durch verstreute Gutshöfe mit vielen landlosen Saisonarbeitern geprägt war, dominierten in Westdeutschland bäuerliche Dorfstrukturen und kleinere Familienbetriebe. Hier war man eher versucht, nichteheliche Geburten einzudämmen, da sie problematisch werden konnten – etwa wegen Erbstreitigkeiten. Zudem kehrten sich größere Bevölkerungsteile Ostdeutschlands bereits im 19. Jahrhundert von religiösen Riten ab. So hatten die Kirchen weniger Einfluss, auf die von ihnen bevorzugte eheliche Geburt hinzuwirken.
Außerdem stellte die Gesetzgebung ostdeutsche Mütter nichtehelicher Kinder besser – zumindest bis 1900, als sie deutschlandweit vereinheitlicht wurde. Wenn etwa im Rheinland der Vater eines nichtehelich geborenen Kindes die Vaterschaft nicht anerkennen wollte, war es der Mutter verboten, die Vaterschaft per Gericht feststellen zu lassen. Das in weiten Teilen Ostdeutschlands geltende preußische Recht erlaubte dagegen, von Vätern nichtehelich geborener Kinder materielle Unterstützung per Klage einzufordern.
Inzwischen sind die Gesetze zwar in ganz Deutschland gleich. Aber vieles ist in den neuen Bundesländern weiterhin anders als in den alten: Zum Beispiel sind die Mütter jünger, die Arbeitslosigkeit und der Anteil der Konfessionslosen höher. Doch selbst als MPIDR-Demograf Klüsener diese und weitere Unterschiede statistisch herausrechnete, war die Neigung zu einem nichtehelichen Kind im Osten immer noch deutlich höher als im Westen. „Auch wenn sich die ökonomische Situation und der Anteil der Konfessionslosen in Ost und West angleichen, würden Unterschiede im Geburtenverhalten auf Basis unserer Berechnungen bestehen bleiben“, schließt Sebastian Klüsener.
Normalfall Ost, Sonderfall West
Zum Sonderfall wird dabei eher der Westen als der Osten Deutschlands. „Ein niedriger Anteil nichtehelicher Geburten wie in den alten Bundesländern wird im europäischen Vergleich immer mehr die Ausnahme“, sagt MPIDR-Demograf Klüsener. Zwar sei die Quote auch im Westen in den letzten Jahrzehnten gestiegen, weil rechtliche Benachteiligungen für nichtehelich geborene Kinder abgebaut wurden. „Die nichtehelichen Geburten dürften in den alten Bundesländern aber auch in Zukunft hinter dem Europatrend zurückbleiben, solange die Ehe als Strategie zur materiellen Absicherung für Frauen wichtig bleibt“, schätzt Klüsener. Schließlich gebe es in Westdeutschland besonders hohe Einkommensunterschiede zwischen Männern und Frauen. Das deutsche Steuersystem verfestige diese über den Hebel des Ehegattensplittings, das gleichzeitig die Ehe subventioniere.
Historische Ausnahme Bayern
Die MPIDR-Analyse zeigt auch: Bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts war Bayern ein Sonderfall mit sehr großen Anteilen nichtehelicher Geburten. Teilweise lagen sie sogar höher als in den Gebieten des heutigen Ostdeutschlands (siehe Karte 1937). Als Hauptursache gilt eine spezielle Erbtradition: So sollte ein bäuerlicher Erbe erst heiraten, nachdem er im Alter von 34 Jahren den Hof seines Vaters übernommen hatte. Da viele Paare nicht so lange warten wollten, bekamen sie schon vor der Ehe ihre Kinder, die den ehelichen Kindern im bayerischen Erbrecht gleichgestellt waren.
Diese hohe Akzeptanz in der Oberschicht trug zusammen mit den rechtlichen Rahmenbedingungen dazu bei, dass der Anteil nichtehelicher Geburten auch in den unteren Schichten groß war. Inzwischen haben die Bayern sich dem westdeutschen Trend allerdings völlig angepasst. Der Anteil an nichtehelichen Geburten liegt dort heute mit rund 27 Prozent leicht unter dem Durchschnitt des gesamten Westens von gut 28 Prozent.