„Galilei steht für einen historischen Umbruch“

5. Februar 2014

Interview mit Max-Planck-Direktor Jürgen Renn zur Bedeutung des italienischen Gelehrten, der vor 450 Jahren geboren wurde

Am 15. Februar 1564 wurde in Pisa Galileo Galilei geboren. Der Philosoph, Mathematiker, Physiker und Astronom fasziniert noch heute Fachleute und Laien gleichermaßen. Wissenschaftshistoriker setzen sich intensiv mit Leben und Werk auseinander, die Medien feiern in diesen Tagen seinen 450. Geburtstag. Über die Bedeutung Galileis sprach Helmut Hornung mit Jürgen Renn, Direktor am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin.

Was macht Galileo Galilei für die Forschung heute noch interessant?
Galilei steht wie kein anderer Wissenschaftler für einen historischen Umbruch, die Geburt der modernen Naturwissenschaft. Seit der Zeit Galileis macht die Wissenschaft nicht nur rasante Fortschritte, sondern greift auch immer mehr in unser Leben ein. Erkenntnis und Anwendung stehen seit Galileis Zeit in einem engen, oft auch problematischen Zusammenhang.

Die Wissenschaft kann für Aufklärung und Emanzipation stehen, aber auch für Machtinteressen in Anspruch genommen werden. Beides zeichnete sich bereits in Galileis Zeit ab. Galileis Umbruch historisch zu begreifen, bedeutet daher auch unsere eigene Situation besser zu verstehen: Wie ist die moderne Naturwissenschaft entstanden und in welchem Verhältnis steht sie zu unserem Leben? Das ist immer noch ein Schlüsselthema.

Inwiefern hat Galilei die Wissenschaftsgeschichte geprägt?
Galilei wurde durch sein öffentliches Auftreten für die kopernikanische Lehre, aber vor allem auch durch den Prozess, den ihm die Kirche deshalb machte, bereits zu seinen Lebzeiten zu einer Legende. Seine Weiterentwicklung des Fernrohrs und seine astronomischen Entdeckungen – insbesondere der Krater und Berge auf dem Mond und der Jupitermonde – machten ihn weltberühmt. Die Jesuiten trugen seinen Ruhm bis nach China. Seine Forschungen zur Mechanik, die Entdeckung des Pendelgesetzes, des Fallgesetzes und der Parabelgestalt der Wurfbahn begründeten die klassische Mechanik.

In der Wissenschaftsgeschichte standen seine Forschungen lange Zeit für einen Paradigmenwechsel, der die wissenschaftliche Neuzeit vom Mittelalter trennt. Heute wissen wir, dass dieser Umbruch nicht von einem einzigen Wissenschaftler abhing und das Ergebnis einer langfristigen Entwicklung war, für die auch wirtschaftliche, politische und kulturelle Veränderungen maßgeblich waren.

In der Akademie von Florenz hat der junge Galilei Vorträge über die „Vermessung der Hölle Dantes“ gehalten. War Galilei Mystiker? Oder nur ein Kind seiner Zeit?
Dante war selbst in mancher Hinsicht ein wissenschaftlicher Pionier. Seine Göttliche Komödie ist jedenfalls eine wunderbare Synthese des mittelalterlichen Wissens, das er durch seine literarische Verarbeitung in der Volkssprache Italienisch einem breiten Publikum zugänglich machte.

Galilei stellte sich durch seine Vorträge in die Tradition dieser literarisch-wissenschaftlichen Volksbildung. Hier liegt eines der Geheimnisse seines Erfolgs: Er war Teil einer breiten, weltoffenen, an Wissenschaft, Kunst und Literatur gleichermaßen interessierten Kultur, für die philosophische Fragen nach dem Aufbau der Welt in engem Zusammenhang mit wissenschaftlich-praktischen Problemen standen. Die Vermessung der Hölle Dantes symbolisiert diesen engen Zusammenhang.

Welches seiner Werke sehen Sie als das wichtigste an?
Das hängt davon, worauf man den Akzent legt. Galilei war ein begabter Schriftsteller, Astronom, Philosoph, Mathematiker, Ingenieur und Physiker. Damals waren diese Rollen nicht so scharf getrennt wie heute. Entsprechend facettenreich sind seine Werke. Sein Sternenbote von 1610 verkündet die neuen astronomischen Beobachtungen von menscheitsgeschichtlicher Bedeutung – der wohl erste wissenschaftliche Bestseller.

Der 1632 veröffentlichte Dialog über die beiden größten Weltsysteme ist Galileis literarisches Meisterwerk schlechthin, ein raffiniert komponiertes Gespräch über das heliozentrische System von Kopernikus und das von der Kirche vertretene geozentrische System des Ptolemäus. Es hat nur einen Haken: Galileis angeblicher Hauptbeweis für die Überlegenheit des heliozentrischen Systems ist eine Theorie von Ebbe und Flut – und übersah den wesentlichen Punkt, die Rolle des Mondes.

Mein persönliches Lieblingswerk sind die Discorsi von 1638, die Unterredungen über zwei neue Wissenschaften. Sie sind Galileis wissenschaftliches Vermächtnis und enthalten seine wichtigsten Beiträge zur Mechanik, ebenfalls verpackt in einen Dialog, der wichtige Rückschlüsse auf Galileis eigenen Erkenntnisweg erlaubt.

Woher stammen Galileis Einsichten?
Galilei stand im Schnittpunkt verschiedener Traditionen, das ermöglichte es ihm, bis dahin voneinander getrennte Wissenselemente zu verknüpfen und dadurch neue Einsichten zu erringen. Er hat Medizin studiert und sich als junger Mann intensiv mit der aristotelischen Naturphilosophie und der mittelalterlichen scholastischen Tradition beschäftigt. Zugleich war er mit der Renaissance-Tradition der Künstler-Wissenschaftler-Ingenieure vertraut.

Er setzte sich mit der zeitgenössischen Technik auseinander, konnte zeichnen und rechnen wie andere Zeitgenossen, die Kunst oder Militärarchitektur zu ihrem Hauptberuf machten. Er bewunderte das Werk des antiken Mathematikers und Physiker Archimedes, mit dessen Hilfe er in seiner Jugend die aristotelische Naturphilosophie reformieren wollte. Dass diese Reformversuche schließlich zu einer Überwindung der aristotelischen Lehre führen würden, liegt in der Natur solcher Transformationsprozesse.

Was ist das Neue an Galileis Ansatz? Ist es, wie häufig behauptet wird, tatsächlich die Kombination von mathematischer Methodik und Experiment?
Eigentlich gibt es gar keinen neuen Ansatz Galileis, jedenfalls nicht als Ausgangspunkt seiner Erfolge, sondern höchstens als deren Ergebnis. Er hat experimentiert und mathematische Methoden angewandt. Aber das war weder neu noch ausschlaggebend. Galileis Werk weist bemerkenswerte Gemeinsamkeiten mit denen anderer Zeitgenossen auf. Thomas Harriot etwa gilt als englischer Galilei, der ebenfalls das Fernrohr auf den Mond gerichtet und die Fallgesetze entdeckt hat. Das ist ein klarer Hinweis darauf, dass es hier nicht um einzelne revolutionäre Entdeckungen ging, sondern um die Transformation eines ganzen Wissenssystems.

Den Ausgangspunkt bildete die allen Zeitgenossen gemeinsame Grundlage der unter anderem auf Aristoteles und Archimedes zurückgehenden antiken Traditionen. Gemeinsam war ihnen auch die Herausforderung durch die zeitgenössische Technologie, durch Feuerwaffen und Ballistik, durch Schiffbau und Architektur, sowie durch die vielfältig eingesetzten Maschinen.

Die Versuche, die neue Technologie mithilfe der alten Begriffe zu verstehen, verwandelten allmählich das überlieferte Wissensystem. An seinen Rändern entstanden neue Begriffe, die schließlich in das Zentrum eines neuen Wissenssystems rückten, das der klassischen Physik. Es war ein Kopernikusprozess, bei dem viele überlieferte Wissensstrukturen erhalten blieben, aber ähnlich wie die Planeten im kopernikanischen System neu angeordnet wurden.

Der „Fall Galilei“, also das Verfahren der Inquisition im Jahr 1633 gegen ihn, gilt als Ausgangspunkt für die Spaltung von Kirche und Wissenschaft. Wie sehen Sie dieses Verhältnis heute?
Der „Fall Galilei“ war das Ergebnis komplizierte politischer Prozesse in der Auseinandersetzung zwischen kirchlicher Hegemonie und weltlicher Macht. Sie waren kompliziert, weil weder die Kirche noch die weltlichen Mächte noch die Wissenschaft in sich einheitlich waren und geschlossene Fronten bildeten. Man darf nicht vergessen, dass die Kirche in dieser Zeit eine bedeutende Stütze der Wissenschaft war. Sie hatte seit Albertus Magnus und Thomas von Aquin die christliche Lehre mit der aristotelischen Philosophie zusammengebracht und so die intellektuelle Grundlage für ein umfassendes Weltbild geschaffen, das sich ganz wesentlich auf Wissenschaft im damaligen Sinne stützte.

Zugleich spielten christliche Ordensgemeinschaften wie die Jesuiten zu Galileis Zeit eine Schlüsselrolle für die Verbreitung wissenschaftlicher Bildung. Aber bei aller Komplexität dieser historischen Prozesse: Es gab einen Grundkonflikt zwischen dem Streben der Wissenschaft nach Erkenntnis und dem Interesse der kirchlichen Autoritäten an einer Kontrolle und Beschränkung des sich rasch vermehrenden Wissens – ein Konflikt, der sich in der Verurteilung Galileis zuspitzte.

Dieser Konflikt besteht im Prinzip noch heute. Er kann allerdings nicht dadurch gelöst werden, dass man Macht, moralische Werte und Wissen absolut voneinander scheidet und sie verschiedenen gesellschaftlichen Instanzen zuweist, die dann nach einem Ausgleich suchen müssen. Moralische Reflexion sollte ebenso zur Macht wie zur Wissenschaft gehören, genauso wie Wissen nicht nur die Voraussetzung von Macht ist, sondern auch die von Moral sein sollte. Aus dem Fall Galileis lernen wir, dass wir die Sphären von Wissen, Macht und Moral nicht absolut voneinander trennen können.

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