Hohe Kinderzahl auf dem Land, niedrige in der Stadt?
Langzeitstudie zu regionalen Geburtenraten in der Schweiz, Deutschland und Österreich
Im Jahr 1900 machte es durchaus noch einen Unterschied für die Familiengründung, ob eine Frau in Berlin oder in Niederbayern lebte: Brachte die Großstädterin im Schnitt 2,7 Kinder zur Welt, gebar die Frau im Süden Deutschlands mehr als doppelt so viele Kinder. Solch große Unterschiede sind heute kaum mehr zu finden – es sei denn man schaut ganz genau hin.
Genau das hat Sebastian Klüsener getan. Gemeinsam mit zwei Kollegen hat der Wissenschaftler des Rostocker Max-Planck-Instituts für demografische Forschung in mühsamer Kleinarbeit für die letzten 150 Jahre Daten aus unterschiedlichen Quellen harmonisiert und zusammengetragen, um vergleichbare zusammengefasste Geburtenraten für Regionen der Schweiz, Österreichs und Deutschlands zu erhalten. Dabei konnten für die Schweiz die längsten und detailliertesten Zeitreihen ermittelt werden.
Die Daten zeigen eine für viele europäische Länder typische Entwicklung: Gehen die regionalen Fertilitätsunterschiede bis Mitte des 19. Jahrhunderts noch zurück, so ändert sich dies mit dem einsetzenden Geburtenrückgang: Die Geburtenrate sinkt in den urbanen Gegenden recht schnell, während sie in den ländlicheren Gegenden zunächst stabil bleibt. Ebenso wie in Österreich und Deutschland erreichen diese Unterschiede um das Jahr 1920 herum einen Höhepunkt: Zu diesem Zeitpunkt ist zum Beispiel die zusammengefasste Geburtenrate von 1,3 Kindern pro Frau in Basel-Stadt nur halb so hoch wie im umliegenden Kanton Basel-Landschaft. Über die letzten 90 Jahre haben sich die Differenzen zwischen den Kantonen aber immer mehr angeglichen, so dass sie heute fast verschwunden sind. Auch in Österreich lässt sich eine solche stetige Abnahme der regionalen Unterschiede zeigen.
In Deutschland kommt es dagegen aufgrund der Teilung des Landes zu einem sehr viel unsteteren Bild. So erlebte der Osten eine Achterbahnfahrt mit relativ hohen Geburtenraten ab 1975 und sehr niedrigen Geburtenraten ab 1990, während die westlichen Regionen seit den 1970er Jahren auf einem niedrigen Niveau verharren. Ab 1994 aber gleichen sich auch in Deutschland die regionalen Geburtenraten wieder aneinander an. Eine Entwicklung, wie Klüsener sie seit Anfang der 90er Jahre in 15 von 18 europäischen Ländern finden konnte.
Die sozialen Unterschiede sind geschrumpft
Überraschend ist diese zumeist über mehrere Jahrzehnte anhaltende Annäherung der regionalen Geburtenraten nicht. Angefangen von der Etablierung eines einheitlichen Bildungssystems, über die Ausbreitung der Massenmedien, die Angleichung des Lebensstandards durch Sozialleistungen bis zur ökonomischen Förderung strukturschwacher Gebiete, sind kulturelle, wirtschaftliche und soziale Unterschiede zwischen den Regionen im Laufe der letzten Jahrzehnte immer stärker zurückgegangen. Auch der Ausbau der Kinderbetreuung trägt tendenziell dazu bei, stark verstädterte Räume für Familien mit Kindern wieder attraktiver zu machen.
Parallel zu dem regionalen Angleichungstrend scheint es allerdings innerhalb größerer Städte teilweise zu entgegenlaufenden Entwicklungen zu kommen. Dies konnten Sebastian Klüsener und seine Kollegen anhand eines genaueren Blicks auf die Bundesländer Bremen und Niedersachsen zeigen. Weil sich in Deutschland nach 1945 nur relativ großräumige Daten auf Ebene der Bundesländer ermitteln ließen, trugen die Demografen zusätzlich die Geburtenraten für 28 Gebiete in der Stadt Bremen und 255 Gebiete in Niedersachsen in der Zeit von 1971 bis 2006 zusammen. In Niedersachsen zeigte sich dabei ein bekanntes Muster: Obwohl es hier traditionell Gebiete gibt, die im Vergleich zur bundesweiten Geburtenrate besonders hohe (Cloppenburg) beziehungsweise besonders niedrige Werte (Harzregion) melden, sind die Unterschiede im untersuchten Zeitraum insgesamt stark zurückgegangen.
Der großräumige Trend, der für Deutschland, Österreich und die Schweiz aufgezeigt wurde, findet sich demnach auch im kleinen Maßstab wieder. Ganz anders sieht es hingegen in Bremen aus, wo die Unterschiede zwischen den untersuchten Bremer Stadtteilen in den vergangenen Jahrzehnten stark gestiegen sind. Klüsener führt dies darauf zurück, dass zum Beispiel junge Frauen in spezifischen Lebensabschnitten wie etwa der häufig kinderlosen Studiumsphase bestimmte Wohngegenden bevorzugen. Auch allgemein ist es zu einer stärkeren Konzentration von Menschen mit ähnlichem sozialen Hintergrund in einzelnen Stadtteilen gekommen. Hierdurch grenzen sich die jeweiligen Stadtteile auch in den Geburtenraten stärker ab. Ein Trend, den Klüsener in vielen anderen Städten ebenfalls vermutet und der in den kommenden Jahren voraussichtlich anhalten wird.