Gleichheit nicht in Sicht
Lieben, arbeiten, Kinder kriegen: 20 Jahre nach der Wiedervereinigung bleiben Lebensverläufe in Ost und West verschieden
Auch 20 Jahre nach der Wende passen sich die Lebensverläufe in Ostdeutschland in wesentlichen Punkten nicht an die im Westen an. Teilweise setzt sogar der Osten den Trend. Dort dominieren Eltern ohne Trauschein, Mütter ohne Religion und Mütter, die Vollzeit arbeiten; im Westen dagegen das Primat der Ehe, christliches Glaubensbekenntnis und Elternpaare, in denen Vollzeitarbeit die Domäne der Männer ist. Wie ungleich leben die Deutschen in beiden Landesteilen wirklich? Das Max-Planck-Institut für demografische Forschung (MPIDR) in Rostock legt nun mit der Broschüre "Familie und Partnerschaft in Ost- und Westdeutschland" eine Bestandsaufnahme in Zahlen und Grafiken aus eigener Forschung und neusten amtlichen Statistiken vor.
"Im Osten wird ein ganz anderes Familienmodell gelebt als im Westen", sagt Michaela Kreyenfeld, Demografin am MPIDR. Sie koordiniert das Forschungsprojekt "DemoDiff" (Demographic Differences in Life Course Dynamics in Eastern and Western Germany), auf dem die Broschüre basiert. Grundlage sind die Ergebnisse der Umfrage "pairfam" (Panel Analysis of Initimate Relationships and Family Dynamics), die unter 12 000 Deutschen regelmäßig erhebt, wie sie etwa Beziehung, Arbeitsteilung, Kinderwunsch oder die Ehe sehen und leben. Beispiele aus dem Inhalt der Broschüre:
Bei Geburten liegt der Osten schon immer vorn
Mit 1,4 Kindern pro Frau lag die Geburtenrate 2008 im Osten erstmals seit 1990 über der im Westen (1,37 Kinder pro Frau). Allerdings sind diese jährlichen Geburtenziffern nur Schätzwerte. Tatsächlich bekam bislang jeder Frauenjahrgang im Osten mehr Kinder als im Westen. Für die heute 45-Jährigen liegen die endgültigen Geburtenraten derzeit bei 1,51 Kindern (West) und 1,60 Kindern (Ost). "Ein Kind ist im Osten immer eingeplant", sagt Michaela Kreyenfeld. Der Trend geht zur Ein-Kind-Familie: Ostdeutsche wünschen sich knapp doppelt so häufig nur ein Kind wie Westdeutsche. Und in den neuen Ländern wächst der Anteil der Ein-Kind-Familien (31 Prozent unter Frauen im Alter von 44 bis 48 Jahren), während er in den alten Ländern sinkt (derzeit 22 Prozent). Kinderlosigkeit bleibt ein Phänomen des Westens: 20 Prozent aller Frauen im Alter von 44 bis 48 haben dort keine Kinder. Im Osten sind es nur 12 Prozent.
Neue Länder: Kinder gerne früh und vor der Ehe
In den neuen Ländern bekommen Frauen ihr erstes Kind nicht nur früher als in den alten Ländern (2008 im Osten durchschnittlich mit 27,5 Jahren; Westen: 28,7 Jahre) sondern vor allem vor der Ehe: Mit einem Anteil von drei Vierteln nichtehelicher Geburten an allen Erstgeburten im Jahr 2009 ist Ostdeutschland Weltspitze (Westen: 36 Prozent). Insgesamt folgt der Westen der Entwicklung im Osten: Während dort unter allen Kindern inzwischen 61 Prozent nichtehelich sind, liegt die Quote in den alten Bundesländern nunmehr bei einem Viertel. Damit hat sie sich seit der Wende verdoppelt. Jedoch ist unverheiratete Elternschaft nicht mit allein erziehender Elternschaft gleichzusetzen. Die Mehrzahl der Frauen, die unverheiratet ein Kind bekommen, lebt mit einem Partner im selben Haushalt.
Westdeutschland: Kind oder Wohnung als Grund zum Heiraten
Wegen eines Babys vor den Traualtar? Im Westen ein verbreitetes Modell: Noch in der Schwangerschaft geht der Anteil unverheirateter Frauen von 51 auf 31 Prozent zurück. Im Osten sinkt er lediglich von 76 auf 64 Prozent (jeweils nur Jahrgänge 1971-1973). Auch ist für West-Paare der Trauschein eher Vorraussetzung für die erste gemeinsame Wohnung: Zwölf Prozent heiraten, wenn sie zusammen ziehen. Im Osten ist es nur ein Viertel davon (drei Prozent). Das könnte auch an unterschiedlichen Einstellungen zur Religion liegen. Fast flächendeckend gehört die Mehrheit ostdeutscher Mütter keiner Religion an, während der Großteil im Westen christlich getauft ist. Stabiler sind die Ehen dort deshalb nicht: Nach fünf Jahren sind acht Prozent wieder geschieden - im Westen wie im Osten.
Gleichberechtigung: Der Osten macht’s dem Westen vor
Die meisten Paare in Deutschland sind glücklich: In beiden Landesteilen sind etwa zwei Drittel mit ihrer Beziehung sehr zufrieden. Dabei ist die Arbeitsteilung sehr unterschiedlich: So gibt in den neuen Ländern fast die Hälfte aller Paare an, dass nicht nur die Mutter die Kinder betreut, sondern Frau und Mann zu je gleichen Teilen - in den alten Ländern sagt das nur knapp ein Drittel. Das passt zur Aufteilung der Erwerbsarbeit: In Ost wie West haben unter den kinderlosen Paare in 60 Prozent der Fälle beide Partner einen Vollzeitjob. Kommt aber Nachwuchs, stimmt das im Osten zwar noch für 28 Prozent, im Westen jedoch nur noch für sieben. Dort gilt in stärkerem Maß: Die Frau umsorgt die Kinder, der Mann verdient das Geld.
Am Forschungsprojekt DemoDiff sind unter Leitung des MPIDR auch die Universitäten Bremen und Rostock und die Technische Universität Braunschweig beteiligt.
Über das MPIDR
Das Max-Planck-Institut für demografische Forschung (MPIDR) untersucht die Struktur und Dynamik von Populationen. Von politikrelevanten Themen des demografischen Wandels wie Alterung, Geburtenverhalten oder der Verteilung der Arbeitszeit über den Lebenslauf bis hin zu evolutionsbiologischen und medizinischen Aspekten der Alterung. Das MPIDR ist eine der größten demografische Forschungseinrichtungen in Europa und zählt zu den internationalen Spitzeninstituten in dieser Disziplin. Es gehört zur Max-Planck-Gesellschaft, der weltweit renommiertesten Forschungsgemeinschaft.