Forschungsbericht 2023 - Friedrich-Miescher-Laboratorium für biologische Arbeitsgruppen in der Max-Planck-Gesellschaft
Wie das Zusammenspiel zwischen Genen und Ernährungsweise die Lebensdauer reguliert
How the chit-chat between genes and diet regulates lifespan
Natürliche Vielfalt und Diversität: Wie kommen sie zustande?
In der Natur gibt es eine unglaubliche Vielfalt. Organismen unterscheiden sich in Farbe, Verhalten, Form, Ernährung, aber auch darin, wie widerstandsfähig sie gegenüber Umweltbelastungen wie Hitze, Trockenheit, Infektionen usw. sind. Ein Ziel der Evolutionsbiologie und unserer Forschung ist es zu verstehen, warum sich Individuen innerhalb derselben Population voneinander unterscheiden. Dazu konzentrieren wir uns auf deren individuelle Genome und versuchen herauszufinden, wie die in den Genen kodierte Information in phänotypische Variationen übersetzt wird, welche Gene für diese Variationen verantwortlich sind, wie wichtig jedes dieser Gene ist, wo im Genom sich die Gene befinden und welche Folgen die Störung einer Genfunktion hat.
Sobald wir die oben genannten Fakten für ein bestimmtes Merkmal zusammenfügen können, können wir behaupten, dass wir die genetische Architektur des entsprechenden Phänotyps verstehen. Eine wichtige Frage jedoch bleibt bestehen: Ist diese Architektur statisch? Oder variiert sie je nach Umweltkontext, in dem die Organismen leben? Konkreter ausgedrückt: Wenn wir in der Lage wären, alle Gene zu finden, die ein bestimmtes Merkmal regulieren, zum Beispiel die Lebensdauer, würden diese Gene dieselben bleiben, wenn wir die Lebensdauer unter verschiedenen Umweltbedingungen messen, beispielsweise wenn sich die Organismen unterschiedlich ernähren? Oder würden wir stattdessen eine andere Gruppe von Genen finden? Oder die gleichen Gene mit unterschiedlichen Auswirkungen?
Anpassung an eine neue Umgebung
Die Beantwortung dieser Fragen ist von Bedeutung, wenn wir verstehen wollen, wie sich Organismen an neue Umgebungen anpassen oder wie Individuen Krankheiten entwickeln, wenn sie schädlichen Ernährungsweisen oder Lebensstilen ausgesetzt sind, zum Beispiel Herzkrankheiten oder Diabetes. Es gibt jedoch nur sehr wenige experimentell ermittelte Daten, die Antworten geben könnten.
Unsere Versuchsanordnung ermöglicht es uns, solche Daten zu sammeln. Um die Frage nach der Abhängigkeit genetischer Effekte von der Umwelt zu klären, nutzen wir die Fruchtfliege Drosophila melanogaster als Modellorganismus. Mit ihr haben wir die Möglichkeit, hunderttausende Individuen zu halten, die Umweltbedingungen sehr gut zu kontrollieren und tausende individuelle Genome zu sequenzieren (Abb. 1). Fliegen reagieren, ebenso wie Menschen, empfindlich auf die Zusammensetzung ihrer Nahrung. Bei einer zuckerreichen Ernährung werden Fruchtfliegen fettleibig, insulinresistent, haben eine geringere Fruchtbarkeit und eine kürzere Lebenserwartung [1]. Angesichts der Auswirkungen der Ernährung auf die Lebensdauer stellten wir uns daher zwei Fragen: Welche Gene steuern die Lebensdauer der Fruchtfliegen? Und sind diese Gene dieselben, wenn die Fliegen mit unterschiedlichen Ernährungsweisen aufgezogen werden?
Wir teilten Zehntausende von wild gefangenen Fliegen in zwei Gruppen auf, von denen eine mit normaler, gesunder, zuckerarmer Nahrung gefüttert wurde, während die andere eine ungesunde, zuckerreiche Nahrung erhielt (Abb. 2). Dann nahmen wir mehrere Proben von sehr jungen Fliegen, ein bis zwei Tage alt, und warteten, bis die Fliegen gealtert waren, und nahmen erneut mehrere Proben von 30 bis 60 Tage alten Tieren. Wir sequenzierten das Genom Tausender dieser Individuen und verglichen die Genome der jungen mit denen der alten Fliegen auf der Suche nach Gen-Versionen, die bei den alten Fliegen sehr häufig und bei den jungen Fliegen sehr selten waren, oder umgekehrt. Die Annahme war: Wenn ein Gen bei alten Individuen häufiger vorkommt, bedeutet das, dass es gut für die Fliege ist und sie länger leben lässt. Ist das Gen dagegen bei jungen Fliegen sehr häufig, bei alten aber selten, so bedeutet dies, dass Fliegen mit diesem Gen bereits in jungen Jahren gestorben, somit nicht erfasst wurden und das Gen daher eher nachteilig für die Lebensdauer ist.
Wir fanden etwa 2000 Positionen im Genom, die mit der Regulierung der Lebensdauer in Verbindung stehen, und obwohl zwei Drittel davon sowohl bei zuckerarmer als auch bei zuckerreicher Ernährung wichtig waren, waren etwa 600 Gene nur bei zuckerreicher Ernährung wichtig [2]. Dies bedeutet, dass die Wirkung dieser Gene durch die Zusammensetzung der Nahrung "entlarvt" oder "geweckt" wird: Wenn sich die Fliegen gesund ernähren, sind diese Gene für die Bestimmung der Lebensdauer eines Individuums irrelevant. Werden die Fliegen jedoch Stress ausgesetzt, beispielsweise einer zuckerreichen Ernährung, werden sie für dieses Merkmal wichtig.
Ein Merkmal, viele Gene
Traditionell wird angenommen, dass genetische Effekte statisch sind, was heißt, dass ein "Gen etwas bewirkt" und dass ein einziges oder wenige Gene ausreichen, um phänotypische Unterschiede zu erklären. Jüngste Entdeckungen auf dem Gebiet der Genomik komplexer Merkmale beim Menschen und bei anderen Arten haben jedoch gezeigt, dass die meisten Merkmale tatsächlich von Hunderten oder Tausenden von Genen beziehungsweise Genomabschnitten reguliert werden und dass die gemeinsame Wirkung aller dieser Loci und nicht nur eines Gens notwendig ist, um phänotypische Variation zu erklären. Für einen Überblick über die Dichotomie „ein Gen - ein Merkmal“ und „viele Gene – ein Merkmal“ sei auf den Literaturhinweis [3] verwiesen. Unsere Ergebnisse unterstützen die dort geäußerten Hypothesen in zweierlei Hinsicht: Erstens wird die Variation der individuellen Lebensdauer durch Tausende von genomischen Loci reguliert. Zweitens sind die genetischen Effekte, die die Lebensdauer regulieren, nicht statisch, sondern dynamisch und werden durch die Umgebung, in der die Organismen leben, verändert.
Diese Ergebnisse sind nicht nur für das Verständnis der Anpassung und Reaktion von Organismen auf neue Umgebungen wichtig, sondern auch für die menschliche Gesundheit. Unsere Daten unterstreichen die Bedeutung der Integration von genetischen Informationen mit dem Umweltkontext, um neue Kenntnisse über die Entstehung von Krankheiten zu erlangen.