Highscore des Lebens
Gene, Umwelt, Gesellschaft – es sind Faktoren, die wir nicht frei wählen können, die uns jedoch prägen und dabei auf erstaunliche Weise zusammenwirken. Traumatische Erfahrungen und die Lebensumstände steuern die Aktivität unserer Gene. Wie genetische Voraussetzungen und soziale Benachteiligung in jungen Jahren interagieren und was wir dagegen tun können, untersucht Laurel Raffington am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin.
Text: Michaela Hutterer
Zwei Spieler stehen an einem besonderen Flipperautomaten: „Genetic Pinball“ prangt darüber. Beide wollen den Highscore knacken und möglichst viele Punkte in den oberen Bereichen des Spielfelds holen: Bildung, Gesundheit und Status. Der Zufall gibt dabei nicht nur vor, wie groß der Flipperball ist – er steht für die genetische Disposition –, sondern auch, wo der Ball ins Spiel kommt. Spieler 1 entstammt in dieser Runde einer wohlhabenden Familie. Sein Ball ist groß, er startet nahe an den punkteträchtigen Bereichen wie Bildung und Gesundheit. Spielerin 2 hat weniger gute Startbedingungen: Das Geld ist knapp, auch für Schulbildung und Gesundheit. Sie startet auf der anderen Seite des Spielfelds, und ihr Ball ist um einiges kleiner als der ihres Mitspielers. Während dessen Ball mühelos Punkte sammelt, bringt Spielerin 2 ihren Ball nur mit viel Geschick in die punkteträchtigen Bereiche. Viel zu oft landet er im Aus oder fällt in eines der Löcher im Spielfeld, in die nur die kleinen Kugeln fallen können. Sie stehen für Widrigkeiten im Leben wie etwa ein undurchlässiges Bildungssystem. Hat Spielerin 2 überhaupt Chancen, den Highscore zu knacken?
Was im Spiel reichlich unfair anmutet, ist in Wahrheit eine Erkenntnis aus einer psychologischen Forschungsarbeit aus dem Jahr 2020, die eine Agentur als Videospiel umgesetzt hat. Von Mai bis Oktober konnten Besuchende auf dem Ausstellungsschiff MS Wissenschaft testen, ob und wie sich Gene und sozioökonomische Faktoren auf das spätere Leben auswirken. Umstände, die sie nicht frei wählen konnten, weil sie – wie unsere genetische Disposition – durch den Zufall vorgegeben werden.
Frühkindliche Prägungen erkennen
„Wir haben keinen Einfluss darauf, mit welchen Genen wir geboren werden oder in welcher Familie wir aufwachsen oder in welchem Land“, sagt Entwicklungspsychologin Laurel Raffington. „Aber unsere Gene und wie wir aufwachsen, die Umgebung, die Ernährung, der Stress in der Familie – all das hat Einfluss auf unsere Gesundheit im späteren Leben.“ Raffington leitet die Forschungsgruppe „Biosocial“ am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin. Gemeinsam mit ihrem Team erforscht sie, wie sich soziale Ungleichheit und die Lebensführung auf die Funktion, genauer die Steuerung der Gene auswirken und zu unterschiedlichen Entwicklungen in den Bereichen Bildung und Gesundheit über die Lebensspanne hinweg führen.
Jahrzehntelang galt das menschliche Erbgut oder Genom als bestimmender und unveränderlicher Bauplan des Lebens. Ob Aussehen, Persönlichkeit oder Krankheitsrisiko: Jede Information ist in unserer DNA in Form unterschiedlicher Sequenzen der Basen Adenin, Guanin, Cytosin und Thymin gespeichert. Dabei hat jede unserer gut 250 verschiedenen Zellarten dieselbe Gensequenz, aber nicht alle Gene sind in allen Zellen aktiv. Die Leber bildet Leberzellen, die Haut Hautzellen. Was bestimmt also, welche Zelle welche Gene nutzt? Biochemische Prozesse schalten bestimmte Gene stumm und verhindern, dass diese abgelesen werden können. Diese epigenetischen Markierungen steuern, welche Gene aktiv sind, und sind – anders als die DNA – durchaus flexibel: Das epigenetische Profil eines Menschen reagiert auf äußere Einflüsse. Besonders auf schädliche.
„Wir wissen, dass Kinder aus sozial benachteiligten Familien häufiger ungünstigen Lebensbedingungen ausgesetzt sind, etwa ungesünderer Ernährung, stärkerer Luftverschmutzung an weniger naturnahen Wohnorten oder Umweltgiften, aber auch mehr familiärem Stress“, sagt Laurel Raffington. „Sie haben ein erhöhtes Risiko für einen geringeren Bildungserfolg und eine Vielzahl von Erkrankungen.“ Doch lässt sich dies auch am epigenetischen Profil betroffener Kinder ablesen? Schließlich zeigen sich die Auswirkungen widriger Umstände in der Kindheit oftmals erst Jahrzehnte später.
„Menschliche Entwicklung geschieht durch ein Zusammenspiel aus Genen, Umwelt und Gesellschaft.“ (Laurel Raffington)
Um das herauszufinden, haben Laurel Raffington und ihr Team Speichelproben von gut 3200 Jugendlichen zwischen acht und 18 Jahren in den USA untersucht. Dabei machten die Forschenden die Beobachtung, dass Kinder aus einem sozial benachteiligten Umfeld bereits epigenetische Profile aufwiesen, die in früheren Studien an Erwachsenen mit einem schlechteren Gesundheitszustand in Verbindung gebracht wurden, wie etwa einem erhöhten Risiko für Fettleibigkeit, und einem höheren biologischen Alter. „In vorherigen Studien war bereits gezeigt worden, dass Kinder, die in finanzieller Armut aufwachsen, später eine höhere Wahrscheinlichkeit für eine Krankheitslast und eine kürzere Lebenserwartung haben“, sagt Laurel Raffington. „Wir glauben nun Messungen entdeckt zu haben, die diesen ‚langem Arm‘ der Kindheit in Echtzeit aufzeichnen können – und damit den langfristigen Effekt von Umwelteinflüssen und Entwicklungsprozessen in der Kindheit.“
Dabei prägen uns nicht nur physische Erfahrungen, sondern auch psychische: 2015 entdeckte Elisabeth Binder, Direktorin am Max-Planck-Institut für Psychiatrie in München, dass sich Traumata der Mutter aus Kindertagen später an deren Kinder vererben. „Wir konnten bei den Kindern epigenetische Veränderungen an einem Gen feststellen, das an der Stressbewältigung beteiligt ist“, berichtet die Neurowissenschaftlerin. Die Gewalterfahrungen von 32 Müttern während des Holocausts prägten bei ihren Kindern die Steuerung des Gens, das das Stresshormonsystem kontrolliert. Da die Kinder die Erfahrungen der Mütter nicht geteilt hatten, müssen sie von den Eltern übertragen worden sein.
Gewalterfahrung hinterlässt also auch im Epigenom Spuren. Elisabeth Binder erforscht, wie genau die genetische Veranlagung und äußere Einflüsse bei psychiatrischen Erkrankungen zusammenspielen und das Risiko dafür erhöhen. „Negative Lebensereignisse haben eine starke Auswirkung auf das Risiko für psychiatrische Erkrankungen. Und das Risiko ist besonders ausgeprägt, wenn diese Ereignisse in der Kindheit stattgefunden haben“, sagt Binder. Ein Grund dafür liege in der Hirnentwicklung, die erst mit Anfang 20 abgeschlossen sei. Davor ist das Gehirn besonders empfänglich für Einflüsse von außen – im positiven wie negativen Sinne.
Bekannt ist auch: Die epigenetische Prägung durch Traumata, die Ernährungslage während der Schwangerschaft, Umweltgifte oder Rauchen wird offenbar weitergegeben, und zwar über Generationen hinweg. Das zeigen Studien der transgenerationellen Epigenetik an Tieren. Wie der Prozess bei Menschen funktioniert, ist noch Gegenstand der Forschung. Kinder etwa, die während des holländischen Hungerwinters 1944/1945 zur Welt kamen, neigten als Erwachsene zu Übergewicht. Rein genetisch findet sich dafür keine Erklärung .
Dabei offenbart die epigenetische Forschung auch konstruktive Erkenntnisse: „Dass wir epigenetische Markierungen bei Kindern gefunden haben, bedeutet nicht, dass deren Entwicklung irreversibel vorgezeichnet ist“, sagt Raffington. „Weil epigenetische Markierungen auf Genen veränderlich sind, können sie etwa stumm geschaltete Gene wieder aktivieren und so die Gesundheit beeinflussen.“ So erklärt sich auch, warum nicht alle Menschen mit derselben Veranlagung etwa für Diabetes diese Krankheit auch bekommen oder warum bei manchen ein erhöhtes Risiko für Fettleibigkeit in Adipositas umschlägt und bei manchen nicht. Erkenntnisse liefert da vor allem die Zwillingsforschung. „Zwillinge, auch eineiige, versterben oft an unterschiedlichen Krankheiten trotz identischen Genpools. Die Wahrscheinlichkeit, dass man an einer koronaren Herzkrankheit stirbt, wenn man einen eineiigen Zwilling hat, der an einer koronaren Herzkrankheit verstorben ist, liegt bei etwa 40 Prozent, nicht 100, und diese Zahl variiert nach Geschlecht und Alter.“
Für Laurel Raffington belegen diese Beobachtungen, dass das Zusammenspiel von Genen und Umwelt ein Entwicklungsprozess ist. „Bis zu einem gewissen Grad können wir die Weichen, die in der Jugend gestellt werden, vermutlich noch umlegen.“ Sie verweist auf Studien, die zeigen, dass sich das epigenetische Profil verbessere, wenn sich Menschen gesünder ernähren oder aufhören zu rauchen. Rauchen verändert das Epigenom von Lungenzellen, Gene können so krankheitsfördernde Eigenschaften bekommen: „Wenn eine Person aufhört zu rauchen, macht sich das im epigenetischen Profil positiv bemerkbar. Aber eventuell ist der Effekt im Vergleich zu frühkindlichen Prägungen kleiner, das wissen wir noch nicht so genau“, erklärt Raffington. Sicher ist: Je eher sich die Lebensumstände und -führung ändern, desto geringer das Risiko, eine Disposition für ein Altersleiden zu aktivieren.
Weichen frühzeitig stellen
„Wir sehen, dass die Weichen für ein jüngeres epigenetisches Alter möglichst früh gestellt werden sollten“, sagt die Wissenschaftlerin. Raffington bezieht sich besonders auf die soziale Ungleichheit. „Unsere Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass Armut in einem sehr frühen Lebensalter, etwa bei der Geburt, besonders prägend für die spätere Gesundheit sein kann.“ Als notwendige Konsequenz sollten gerade sozioökonomisch schwache Familien unterstützt werden, wenn die Kinder noch sehr klein sind, erinnert sie.
Wie bedeutend finanzielle Unterstützung sein kann, zeigt eine US-amerikanische Studie, an der Laurel Raffington und Elisabeth Binder beteiligt sind. In der Studie „Baby’s First Years“ erhielten finanzschwache alleinerziehende Mütter in den USA ab der Geburt ihres Kindes sechs Jahre lang monatlich etwa 330 Dollar. Ein Novum für die USA: Unterstützungsleistungen wie etwa das deutsche Kindergeld gibt es nicht; einzig während der Pandemie erhielten Eltern einen Steuernachlass. Mittlerweile sind diese Kinder nahezu sechs Jahre alt. In der Studie untersuchen die Forschenden, ob die finanzielle Unterstützung nicht nur die Lebensumstände der Kinder verändert, sondern auch deren epigenetische Profile beeinflusst hat. „Erste Ergebnisse zeigen, dass die Mütter mehr Geld für ihre Kinder ausgegeben und mehr Zeit mit ihnen verbracht haben. Hinweise für das oft vorgebrachte Vorurteil, das Geld fließe in Alkohol und Zigaretten, fanden sich nicht“, sagt Raffington. Erste epigenetische Auswertungen wollen die Max-Planck-Forscherinnen im kommenden Jahr veröffentlichen.
Studien zur epigenetischen Prägung von Kindern helfen nicht nur, mehr über die Gen-Umwelt-Interaktion zu erfahren, die uns prägt, sondern bieten Impulse auch für Politik und Gesellschaft. „Als Individuen haben wir keine Wahlfreiheit, unsere genetische Disposition oder Familie auszusuchen“, gibt Raffington zu bedenken. „Als Gesellschaft haben wir jedoch die Freiheit, soziale Ungleichheit anzugehen und unsere Bildungs- und Gesundheitssysteme zu optimieren.“
Wie leicht sich Strukturen – zumindest im Spiel – ändern lassen, können Interessierte am genetischen Flipperautomaten selbst ausprobieren (Genetic Pinball). Laurel Raffington und ihr Team konzipierten mit dem Spieleentwickler Purple Sloth einen zweiten Level, bei dem Spielende wichtige Parameter des Spielfelds ändern und etwa soziale Ungleichheiten beseitigen können. Auf der MS Wissenschaft nutzten die Spieler Level 2, um etwa den Zugang zu Bildung für Kinder aus nichtakademischen Haushalten zu verbessern. Das wäre schon mal eine Pinball-Falle weniger für die weniger privilegierte Kugel.