Coldfinger

Kosmische Wolken aus Gas und Staub – das sind die kalten Geburtsstätten von Sternen und Planeten

Um zu verstehen, was genau geschieht, beobachtet die Gruppe um Silvia Spezzano am Garchinger Max-Planck-Institut für extraterrestrische Physik in den kalten Wolken verschiedene Moleküle und simuliert die kosmische Chemie im Labor. Dies gibt Hinweise darauf, wie in Sonnensystemen Bedingungen entstehen, unter denen sich Leben entwickeln kann.

Text: Helmut Hornung

Der Weg zum Geburtsort der Sterne führt über die U-Bahnlinie 6 bis zur Endstation „Garching-Forschungszentrum“. Zu Fuß gelangt man von hier in wenigen Minuten zum Max-Planck-Institut für extraterrestrische Physik. Mit dem Aufzug geht es in den Keller, wo die astrochemischen Labore untergebracht sind. „Hier stellen wir die Bedingungen nach, wie sie in interstellaren Wolken herrschen“, erklärt Silvia Spezzano. Die Chemikerin hat in Bologna studiert, nach einem Jahr in Harvard an der Universität zu Köln promoviert und forscht seit 2015 am Zentrum für astro­chemische Studien (Cas) des Max-Planck-Instituts unter Leitung der Direktorin Paola Caselli.

Manche Studienobjekte des Cas lassen sich am Himmel mit bloßem Auge erspähen. So etwa in einer klaren Winternacht im Sternbild Orion, das mit seinen markanten drei Gürtelsternen hoch am südlichen Firmament prangt. Schräg unterhalb, im „Schwertgehänge“, schimmert ein diffuses Nebelchen. In diesem rund 1350 Lichtjahre von der Erde entfernten Gebilde ballen sich gewaltige Wolken aus Wasserstoffgas unter ihrer eigenen Schwerkraft zusammen und bilden neue Sterne. Was hier aber im Kleinen passiert, wie Sterne wirklich entstehen, das erfährt nur, wer – wie Silvia Spezzano – ganz genau hinsieht. Auf den Fotos großer Teleskope strahlt der Orionnebel prächtig in sattem Rot. Die Ursache dafür sind junge, heiße Sterne, die durch ihre hohe Strahlungsenergie den Wasserstoffatomen, die Sternentstehungsgebiete dominie­ren, ihre Elektronen zumindest kurzfristig entreißen. Binden sich die Elektronen wieder an die Atomkerne, wird Licht mit einer charakteristischen rötlichen Farbe abgestrahlt.

Eingebettet ist dieser im optischen Licht sichtbare Nebel in einen viel größe­ren Komplex mit der Bezeichnung OMC-1. Diese Molekülwolke, für die sich Spezzano und ihr Team interessieren, erscheint nur bei längeren Wellenlängen im Infrarotlicht oder im Bereich der Radiostrahlung. Wie alle Dunkelwolken ist sie mit einer Temperatur von wenigen Grad über dem absoluten Nullpunkt (minus 273,15 Grad Celsius) extrem kalt. Sie enthält ungefähr ein Prozent Staub, sehr viel Wasserstoff – und jede Menge andere Moleküle. Diese verraten den Forschenden viel über die Prozesse, die in den Wolken ablaufen. Die Moleküle sind aber auch eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass sich in einem Sonnensystem Leben entwickeln kann. Dabei herrschen im Universum völlig andere Bedingungen als auf der Erde – das gilt auch für Dunkelwolken. „Forschende der Astrochemie müssen sich eine ganz neue Chemie vorstellen“, sagt Spezzano.

Dunkelwolken existieren überall in der Milchstraße. Sie versammeln vergleichsweise viel Materie auf kleinem Raum und verschlucken dadurch wie ein dicker Vorhang das Licht dahinterliegender Sterne. Forschenden im 19. Jahrhundert erschienen sie als „Löcher im Himmel“. Die Bilder, die Max Wolf um die Jahrhundertwende aufgenommen hat, zeigen viele dieser Dunkelwolken. Der Heidelberger Astronom und Pionier der Astrofoto­gra­fie entwickelte unter anderem ein statistisches Werkzeug, um deren Entfernungen und Größen zu ermitteln.

„Die Zutaten des Lebens stecken in den Wolken schon drin.“

In den 1960er-Jahren begann man, mit Radioteleskopen tief in solche Wolken zu blicken und dort gezielt nach Molekülen zu suchen; neben Wasserstoff das häufigste ist Kohlenmonoxid. So konnte man erstmals direkt beobachten, wie Dunkelwolken aufgebaut sind und welche Prozesse in ihnen ablaufen, bis am Ende ein neuer Stern entsteht. Heute kennt man in den Wolken ungefähr 300 weitere Arten von Molekülen, zu den komplexesten gehören Fullerene oder Dimethylether. Dass man im Universum eine große Zahl an organischen Molekülen – darunter Amino- und Fettsäuren – entdeckt hat, fasziniert Silvia Spezzano besonders. „Das alles sind Zutaten des Lebens. Und die stecken in den Wolken, aus denen Sterne und Planeten geboren werden, schon drin.“

Um die Moleküle aufzuspüren, setzt die Wissenschaftlerin auf Spektroskopie. Damit kann sie einzelne Substanzen über eine Art Fingerabdruck in der elektromagnetischen Strahlung von Molekülwolken identifizieren. Silvia Spezzano interessiert sich für das Radiolicht bei sehr kurzen Millimeter-Wellen­längen und untersucht es mit Tele­skopen wie der 30-Meter-Antenne auf dem Pico del Veleta in der spanischen Sierra Nevada oder dem Observatorium Noema auf dem Plateau de Bure in den französischen Alpen. In den Radiospektren verraten sich die einzelnen ­Moleküle durch bestimmte Energien, die sie aufgrund ihrer Rotation abstrahlen. Daraus leitet die Wissenschaftlerin unter anderem ab, wie hell eine astronomische Molekülwolke bei welchen Wellenlängen leuchtet. Viele der darin vorkommenden dünnen Linien sind charakteristisch für bekannte Moleküle, die man über einen Onlinekatalog identifizieren kann.

Aus den Linien, also den Fingerabdrücken, lässt sich etwa herauslesen, wie viele Moleküle von einer Sorte in der Wolke vorhanden sind, welche Temperatur das Gas hat, wie dicht es ist und wie es sich bewegt. Die Breite der Spektrallinien verrät Silvia Spezzano, dass verschiedene Teile der Wolke mit Geschwindigkeiten von einigen Kilometern pro Sekunde umherwirbeln. Die Dynamik der Moleküle gibt Auskunft darüber, ob die Wolke unter ihrer eigenen Schwerkraft in sich zusammenstürzt oder ob sie vielmehr auseinanderdriftet. Das entscheidet letztlich darüber, ob in der Gas- und Staubwolke ein Stern entsteht oder nicht.

Kalte Finger

Um das zu verstehen, muss man sich die Prozesse vor Augen führen, die im Detail bei der Sternengeburt ablaufen. Während einfache Modelle von sphärischen, also kugelförmigen Geburtswolken ausgehen, scheint sich die Materie tatsächlich in kleinen Materiefilamenten zu sammeln, die das Gas wie dünne Finger durchziehen. Solche Filamente hat das europäische Weltraumteleskop Herschel vor einigen Jahren beobachtet. Offenbar sind diese Strukturen die eigentlichen Kreißsäle der Sterne. Wie sie zustande kommen, ist noch nicht geklärt. In einem Frühstadium ohne stellaren Kern im Zentrum verteilt sich die Wolke eher weitläufig. Wird an einer Stelle eine kritische Masse überschritten und gewinnt die Gravitation gegenüber dem nach außen wirkenden thermischen Druck der Teilchen die Oberhand, beginnt sie schließlich unter der eigenen Schwerkraft zu kollabieren, die Partikel rasen jetzt aufeinander zu.

Wie läuft die Sternengeburt nun ab? Bis aus einer Molekülwolke ein ausgereifter Stern entstanden ist, dauert es nur bis zu rund eine Million Jahre. Im Vergleich zur Lebensdauer eines sonnenartigen Sterns von etwa zehn Milliarden Jahren laufen diese Prozesse also schnell ab. Alles beginnt mit diffusen Wolken aus inter­stellarem Material. Aufgrund der extrem niedrigen Temperaturen und der Schwerkraft ziehen diese sich zusammen und zerfallen schließlich in noch dichtere Fragmente mit etwa hunderttausend Molekülen pro Kubikzentimeter. Zum Vergleich: Die Erdatmosphäre ist mit zehn Trillionen Molekülen pro Kubikzentimeter um einiges dichter, dafür aber auch deutlich wärmer als interstellares Gas. In den so entstandenen, 0,3 Lichtjahre großen prästellaren Kernen liegen die Temperaturen bei minus 263 Grad Celsius. Werden die Kerne durch die Schwerkraft instabil, kollabieren sie erneut und bilden Protosterne.

Diese sind zunächst tief in eine dicke Hülle aus Gas und Staub eingebettet. Der Staub besteht im Wesentlichen aus winzigen Graphit- und Silikatteilchen. Diese haben lediglich ein Zehntausendstel des Durchmessers von Staubkörnern, wie sie auf der Erde vorkommen. In der Umgebung des Protosterns bilden sich viele Moleküle. Zudem fließt Material von der kühlen Mutterwolke ins Zentrum des Kerns, wo die Materie noch dichter wird und eine Scheibe ausbildet, die den jungen Protostern im Zen­trum füttert. Wie dies funktioniert, haben Forschende des Max-Planck-Instituts für extraterrestrische Physik und des französischen Institut de Radio Astronomie Millimétrique vor einiger Zeit beobachtet. Sie untersuchten mit der Antennenanlage Noema in einer Molekülwolke im Perseus ein protostellares Doppelsystem – Sterne entstehen oft zu mehreren – und beobachteten eine leuchtende Materiebrücke, welche den Außenbereich der Hülle mit der inneren Region verbindet. Dank dieses „Förderbandes“ legt der Sternen­­embryo stetig an Masse, Dichte und Temperatur zu. „Das Molekül, anhand dessen wir das kosmische Förderband entdeckten, hat die Strukturformel HCCCN, besitzt also drei Kohlenstoffatome“, sagt Max-Planck-Direktorin Paola Caselli.

Um Protosterne herum beobachten Astronominnen und Astronomen häufig scheibenförmige Regionen, die theoretischen Modellen zufolge gute Bedingungen für die Geburt von Planeten bieten. Tatsächlich beginnt deren Wachstum laut Forschungsergebnissen schon, während die zentrale Sonne selbst noch heranreift. „Früher dachten wir, dass zuerst die Sterne erwachsen werden und dann quasi Mütter der Planeten sind, die erst später kommen. Aber jetzt sehen wir, dass Proto­sterne und Planeten sich von Kindesbeinen an gemeinsam wie Geschwister entwickeln“, sagt Dominique Segura-Cox, die damals am Max-Planck-Institut für extraterrestrische Physik arbeitete. Ihrer Gruppe gelang am Observatorium Alma in den chilenischen Anden ein detailreiches Bild, das eine protostellare Scheibe mit mehreren Lücken und Staubringen um den weniger als 500 000 Jahre alten Stern IRS 63 zeigt. Dieser ist noch längst nicht fertig – er wird weiterhin Masse aufnehmen. Sobald die Temperatur in seinem Kern auf etwa zehn Millionen Grad gestiegen ist, zündet die Kernfusion, die Wasserstoff in Helium umwandelt. Dann leuchtet im All eine neue Sonne auf.

Um ein Gesamtbild von der Entwicklung der Sterne zu gewinnen, studiert die Gruppe am Garchinger Cas immer mehrere Wolken in unterschiedlichen Stadien. In den 1980er-Jahren wurden viele solcher Objekte beobachtet und klassifiziert. „Im Weltall existieren sozusagen Kreißsäle mit und ohne Babys, also Dunkelwolken mit und ohne Sterne“, sagt Spezzano. In beiden Fällen registrieren die Forschenden in den Spektren die Fingerabdrücke von mehreren Dutzend verschiedenen Molekülen. Aber es gibt Unterschiede: In manchen Wolken sind Moleküle zu finden, die es in anderen nicht gibt. Auch die Mengen einer Substanz können sich unterscheiden. Der Grund: Die Astronominnen und Astronomen beobachten, wie schon gesagt, die Wolken in einer jeweils anderen Entwicklungsphase. Als Beispiel nennt Silvia Spezzano das Methanol: In Wolken ohne Stern sind die Temperaturen im Zen­trum niedrig, die Chemie läuft sozusagen auf Eis ab, und gasförmiges Methanol findet sich lediglich in geringen Mengen. Leuchtet in der Wolke hingegen ein Stern, sind die zentralen Temperaturen entsprechend höher. Das Eis löst sich auf – das zuvor gebundene Methanol wird nun freigesetzt und in großen Mengen sicht- und messbar.

Interstellare Moleküle im Labor

„Wir versuchen, die Teilchen mehrerer Puzzles zu einem Gesamtbild zusammenzusetzen“, so Spezzano. Daraus ergibt sich ein interessanter Befund: „Ein Proto­stern strahlt Energie ab und wirkt damit auf seine Umgebung. Eigentlich sollte man meinen, dass dadurch das vorhandene Molekülinventar innerhalb der Wolke komplett vernichtet wird.“ Dies ist jedoch keineswegs der Fall. Vielmehr überleben viele Moleküle die Bestrahlung und werden in die sich entwickelnden Planeten eingebaut. „Das war auch vor rund 4,6 Milliarden Jahren bei der Geburt unseres Planetensystems so. Deshalb ist ungefähr die Hälfte des Wassers in unseren Gläsern älter als die Sonne“, sagt Spezzano. Der Rest des Wassers ist später entstanden, im Prozess der Stern- und Planetenbildung. Bisweilen tauchen in den Spektren Moleküle auf, die in keinem Katalog verzeichnet sind. „Wir nennen diese zunächst unbekannten Fingerabdrücke deshalb U-Linien, u wie unbekannt“, sagt Spezzano. Im Labor können die Forschenden umgekehrt unter extremen Bedingungen bisher unbekannte Moleküle erzeugen, deren spektrale Signatur vermessen und sie so einer U-Linie zuweisen.

Beispielsweise haben Forschende am Cas gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen aus Italien in einer Wolke nahe dem galaktischen Zentrum Propargylimin entdeckt. Das Molekül hat die komplexe chemische Formel HCCCHNH und ist äußerst instabil, unter normalen Bedingungen auf der Erde kann man es kaum isolieren. Bei den für das interstellare Medium typischen sehr niedrigen Dichten und Temperaturen hingegen, mit denen das Team um Silvia Spezzano im Labor forscht, bleibt es recht stabil. Diese chemische Spezies spielt eine fundamentale Rolle bei der Bildung von Aminosäuren, die zu den wichtigsten Bestandteilen des Lebens gehören. Auch Spezzanos Studentin Judit Ferrer Asensio ist ein Treffer gelungen. Sie entdeckte deuteriertes Acetaldehyd (für Chemiker: CHD2CHO) – zunächst im Labor, später dann auch in einer Molekülwolke.

„„Die Hälfte des Wassers in unseren Gläsern ist älter als die Sonne.““

Das zeigt, wie wichtig die Laborarbeit ist. Neben Beobachtung und Theorie ist sie die dritte Säule der Forschungen am Zentrum für astrochemische Studien. Ein drei Meter langes Glasrohr ist das Herzstück von Casac, einem von mehreren Spektrometern im Keller des Instituts. Das System untersucht die spektralen Fingerabdrücke von Molekülen in der Gasphase, die auch in einem Plasma innerhalb der Glaszelle erzeugt werden können. Die Spektroskopie erfasst einen Wellenlängenbereich von 0,3 bis 4 Millimetern. In einem anderen Raum steht ein Instrument namens Cas-Ice. Hier bringt eine Eismaschine mit der Bezeichnung „Coldfinger“ die Moleküle auf eine Temperatur von maximal minus 268 Grad Celsius. Mit Cas-Ice untersuchen die Forschenden im infraroten Teil des Spektrums verschiedene Gemische gefrorener Substanzen. Das Instrument erlaubt unter anderem einen direkten Vergleich mit den Beobachtungen, welche das James-Webb-Teleskop an kosmischem Eis liefert.

Im Jahr 2023 registrierte dieses Weltraumobservatorium in einer Planetenatmosphäre erstmals auch Schwefeldioxid. Die Spektrallinien des Moleküls verbreitern sich, sobald der Druck zunimmt – etwa durch die Anwesenheit von anderen Molekülen wie Wasserstoff oder Wasser, Stickstoff oder Sauerstoff. Im Labor injiziert Spezzanos Team diese Moleküle in eine künst­liche Atmosphäre und vergleicht die sich ändernde Linienbreite von Schwefeldioxid mit den Messungen des James-Webb-Teleskops. „Nach dieser Methode werden wir in Zukunft die komplexen Atmosphären von kleineren, erdähnlichen Planeten nachbauen“, sagt Silvia Spezzano. Und auch bei solchen Experimenten geht es um eine fundamentale Frage, die nicht nur die Max-Planck-Forscherin umtreibt, sondern die Astrochemie letztlich leitet: Wie kommt das Leben in die Welt?

Auf den Punkt gebracht

  • Das Baumaterial von Sternen und Planeten steckt in großen und sehr kalten interstellaren Dunkelwolken, die überwiegend aus Gas und einer Prise Staub bestehen.

  • In den Dunkelwolken existieren viele Moleküle, deren Analyse Rückschlüsse auf die Entwicklung der Wolken ermöglicht.

  • Mithilfe von Spektroskopie und Laborexperimenten untersuchen die Forschenden die chemischen Prozesse in Dunkelwolken sowie die Entwicklung von Sternen und Planeten.

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