Bundesverfassungsgericht stärkt Forschungsfreiheit

Das Gericht hat die Bedeutung vertrau­li­cher Datenerhebungen zu strafbarem Verhalten betont

27. Oktober 2023

In dem Fall der Beschlagnahme von vertraulichen Interviewdaten im Rahmen eines krimino­lo­gi­schen For­schungs­projekts durch die bayerischen Strafverfolgungsbehörden hat das Bundes­verfas­sungs­gericht die Forschungs­freiheit gestärkt. Dass das Gericht die Bedeutung vertrau­li­cher Datenerhebungen zu strafbarem Verhalten unterstrichen hat, wird nach Ansicht des Max-Planck-Instituts zur Erforschung von Kriminalität, Sicherheit und Recht zu mehr Sicherheit in der kriminologischen Forschung führen. Der am Institut tätige Kriminologe Dietrich Ober­witt­ler hatte in einer Stellungnahme zu der Verfassungsbeschwerde auf die drohenden negativen Konse­quen­zen der Beschlagnahme von Forschungsdaten hingewiesen.

Im Rahmen des DFG-geförderten Forschungsprojekts „Islamistische Radikalisierung im Justizvollzug“ hatte ein Psychologie-Professor an der Universität Erlangen-Nürnberg Strafgefangene befragt mit dem Ziel heraus­zu­fin­den, warum sich Häftlinge extremistischem Gedan­ken­gut zuwenden; auch sollte untersucht werden, ob sie sich im Gefängnis verstärkt radikalisieren. Allen Be­frag­ten wurde Vertraulichkeit zugesichert.

Nachdem ein Strafgefangener, der an den Interviews teilgenommen hatte, von einem Mithäftling denunziert wurde, ließ die Staats­anwalt­schaft jedoch die Audiodateien und Transkripte des – eigentlich vertraulichen – Interviews beschlagnahmen. Wenig später ermittelte die Generalstaatsanwaltschaft München gegen den Häftling wegen Mitgliedschaft einer terroristischen Vereinigung.

Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sind keine Geistlichen

Eine Beschwerde des Forschers gegen das Vorgehen der Münchner Strafverfolgungsbehörde wurde vom Oberlandes­gericht München abgewiesen. Nach deutschem Recht genießen Wissen­schaft­lerinnen und Wissenschaftler im Gegensatz zu einigen anderen Berufsgruppen (z. B. Geist­liche) kein Zeugnisverweigerungsrecht in Strafverfahren, so die Begründung. Für den Professor gelte daher auch kein Durchsuchungs- und Beschlagnahmeverbot.

Der Psychologie-Professor wandte sich daraufhin an das Bundesverfassungsgericht. Dieses nahm die Verfas­sungs­beschwer­de zwar aus formellen Gründen – wegen Fristüberschreitung – nicht zur Entscheidung an. In seiner Begrün­dung, in der das Verfassungsgericht eine Bewertung der Be­schlag­nahme vornimmt, wurde die Position der Wissen­schaft dennoch klar gestärkt. Denn in der Begründung heißt es: „Gerade empirische Forschung ist regelmäßig auf die Erhebung von Daten angewiesen und insbesondere aussagefähige sensible Daten können von den Betroffenen oftmals nur unter der Bedingung von Vertraulichkeit erhoben werden. [...] Die staatlich erzwungene Preis­gabe von Forschungs­daten hebt die Vertraulichkeit auf und erschwert oder verunmöglicht ins­be­sondere Forschungen, die [...] auf vertrauliche Datenerhebungen angewiesen sind.“

Das Bundesverfassungsgericht hebt zudem die wichtige Rolle der Forschung für eine rationale Kriminalprävention hervor: Diese sei „in hohem Maße auf Erkenntnisse über Dunkelfelder und kriminalitätsfördernde Dynamiken angewiesen. Eine effektive Verhinderung von Straftaten setzt deshalb genau jene Forschung voraus, die durch den Zugriff auf ihre Daten zum Zwecke der konkreten Strafverfolgung erheblich erschwert oder verunmöglicht wird.“

Da das Bundesverfassungsgericht die Beschwerde aus formellen Gründen abgewiesen hat, hatte der Fall keine rechtlichen Konsequenzen. Das Material konnte deshalb für die Strafverfolgung verwendet werden. „Allerdings ist stark anzunehmen, dass sich Staatsanwaltschaften in Zukunft sehr zurückhalten werden, weil das Bundesverfassungsgericht sonst wahrscheinlich noch mal dagegen entscheiden würde. „Leider gibt noch keinen „Auftrag“ an die Regierung, das gesetzlich klar zu regeln“, sagt Dietrich Oberwittler vom Max-Planck-Institut für Max-Planck-Institut zur Erforschung von Kriminalität, Sicherheit und Recht.

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