Wie politisch darf Wissenschaft sein?

Ein Gespräch mit Carola Sachse über Wissenschaft und Diplomatie

Die globale wissenschaftliche Zusammenarbeit, ohne die die planetaren Krisen der Gegenwart nicht zu bewältigen sein werden, ist ohne ein kluges Ausbalancieren von Wissenschaft und internationaler Politik auch aufseiten der wissenschaftlichen Akteure nicht mehr zu haben. Allerdings zeigt der Blick in die Geschichte der Max-Planck-Gesellschaft (MPG), dass die strategischen Verknüpfungen von Wissenschaft und Außenpolitik häufiger nationalstaatlichen und bündnispolitischen Interessen dienten als einem global verstandenen Wohl der Menschheit. Die MPG sah sich daher lange Zeit nicht als Akteurin einer internationalen Wissenschaftsdiplomatie, so die Historikerin Carola Sachse in ihrer Studie.

Interview: Christina Beck 

Frau Sachse, Sie schreiben in der Einleitung zu Ihrem Buch Wissenschaft und Diplomatie, die Max-Planck-Gesellschaft habe mit ihrem Bekenntnis zur Science Diplomacy spät, wenn nicht gar zu spät, auf eine inzwischen 20-jährige internationale Entwicklung reagiert. Können Sie das näher ausführen?

Carola Sachse: Ich habe 2018 einige Interviews in der Generalverwaltung geführt, und damals war der Tenor: Nein, wir halten uns da ganz raus. Unser Interesse ist es, Kooperationen zu vermitteln, wo immer auf der Welt sie für unsere Wissenschaftler interessant erscheinen, wo sie vielversprechend und effektiv möglich sind. Und wenn es im konkreten Fall politische Hindernisse gibt, dann versuchen wir, diese über unsere Kontakte zu Ministerien, Botschaften und Wissenschaftsorganisationen auszuräumen oder Wege zu finden, um die gewünschte wissenschaftliche Kooperation dennoch möglich zu machen. Aber als Max-Planck-Gesellschaft die Außenpolitik der Bundesregierung in irgendeiner Form zu unterstützen, war kein Thema. Insofern war ich erstaunt, als ich Anfang 2022 auf der Website die Aussage fand, die MPG wolle selbstverständlich zur Wissenschaftsdiplomatie der Bundesregierung beitragen.

Die Diskussion über Wissenschaftsdiplomatie geht vor allem auf US-amerikanische Ansätze zurück.

Ja, um die Millenniumswende begann es als ein neuer Anlauf von soft power policy der USA. Wissenschaftsdiplomatie, wie sie seit einigen Jahren propagiert wird, verspricht demgegenüber, die planetaren Probleme der Welt in einer neuartigen, supranationalen Zusammenarbeit von Politik und Wissenschaft anzugehen. Auch die großen, von der EU geförderten Projekte werden von dieser Hoffnung geleitet. Aber die MPG hat sich daran nicht beteiligt. Vielleicht setzt der Ausbau der Erdsystemwissenschaften, etwa mit der Gründung des Max-Planck-Instituts (MPI) für Geoanthropologie, neue Impulse.

Sie meinen, die Max-Planck- Gesellschaft hat es bisher eher abgelehnt, sich mit Außenpolitik zu befassen und dafür vereinnahmen zu lassen?

So jedenfalls die Aussagen seitens der Generalverwaltung. Wenn man dann genauer hinschaut, stellt es sich gelegentlich anders dar, insbesondere wenn man an das 1974 gestartete China-Programm denkt. Hier übernahm die MPG in einer spezifischen geopolitischen Situation und in Absprache mit der Bundesregierung die Rolle einer klassischen diplomatischen Akteurin. Ohne sie wäre der Aufbau wissenschaftlicher Beziehungen zu China überhaupt nicht möglich gewesen.

Mit Adolf Butenandt gab es aber einen Präsidenten, der eine sehr aktive wissenschaftspolitische Rolle spielen wollte. Zur Satzungsreform Anfang der 1960er-Jahre schreiben Sie in Ihrem Buch: „Die MPG brauchte eine innen- und außenpolitisch handlungsfähige und entscheidungswillige Führung.“ Und weiter: „Butenandt brannte darauf, sich mit dem Gewicht seines neuen Amtes wissenschaftspolitisch einzubringen.“

Aus unseren Arbeiten zur Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus kannte ich Butenandt als eine hoch problematische Figur. Auch später blieb er umstritten, auch innerhalb der Max-Planck-Gesellschaft. Aber in den 1960erJahren kamen Aspekte hinzu, die ich so nicht erwartet hätte: Butenandt war – als um den wissenschaftlichen Nachwuchs besorgter Wissenschaftsmanager, aber auch als Vater von sieben Kindern – stark bildungspolitisch interessiert und setzte die Gründung des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung gegen erhebliche Widerstände durch. Ebenso unterstützte er die Gründung des Starnberger Instituts [MPI zur Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt] in der Vorstellung, dass damit ein Institut entstehen könnte, das der internationalen Friedenssicherung dient.

Interessant ist der Vergleich, den Sie zur Politikberatung in den USA gezogen haben. Danach war das, was am Starnberger Institut geleistet wurde, kaum zu vergleichen mit dem, was die US-Amerikaner unter Politikberatung verstanden.

Ja, so kann man es sehen, auch wenn Weizsäcker selbst lieber von grundwissenschaftlichen Forschungen für eine in Starnberg zu entwerfende Weltinnenpolitik sprach. Es war ein eigenartiges Verständnis von Politikberatung, das ihn mit Hahn, Butenandt und Heisenberg verband. Man berief sich auf eine dem Wissenschaftler eigene Rationalität und fühlte sich berufen, aus dieser wissenschaftlichen Weltsicht heraus den von Wahlkampf zu Wahlkampf getriebenen Politikern mit ihren, wie sie sagten, irrationalen Wahlversprechen die vernunftgebotene Perspektive zu weisen. Eine Politikberatung, wie sie in den USA seit langer Zeit üblich war und wie sie insbesondere im Anschluss an das Manhattan-Projekt seit den frühen 1950er-Jahren im Presidential Scientific Advisory Committee praktiziert wurde, hat es in der Bundesrepublik – trotz üppig sprießender Expertenbeiräte – nie gegeben. Was dieses Gremium tat, wurde in Starnberg nicht verstanden. Aber es wurde seitens der Bundesregierung bis in die späten 1960er-Jahre hinein auch nicht gewollt. öffentlich erteilte Ratschläge elitärer Wissenschaftler, die vom Geschäft der Politik nichts verstünden und die – wie zum Beispiel mit der Göttinger Erklärung von 1957 und ihrer Warnung vor einer atomaren Bewaffnung der Bundeswehr – der Regierung in den Rücken fielen, verbat man sich.

Mit der Göttinger Erklärung haben Weizsäcker & Co. die Bundesregierung seinerzeit ziemlich gegen sich aufgebracht.

Ja, aber nicht nur damit. Bedeutsamer als die Göttinger Erklärung, die Weizsäcker kaum ein Jahr später widerrief, war in meinen Augen das heute weit weniger bekannte Tübinger Memorandum von 1961/62. Diesmal wurde einer allzu starken Identifizierung dieser Erklärung mit der Max-Planck-Gesellschaft vorgebeugt, indem man die Forschungsstätte der Evangelischen Kirche als Postadresse nutzte. Aber der Führungskreis der MPG war wesentlich daran beteiligt, wenn in diesem Memorandum deutschlandpolitische Illusionen angeprangert und außenpolitischer Realismus eingefordert wurde: Zum ersten Mal wurde öffentlich formuliert, man müsse sich mit der Oder-Neiße-Linie abfinden und die Existenz der beiden deutschen Staaten hinnehmen. Das war damals ein Tabubruch. Das wagte zu jenem Zeitpunkt nicht einmal die oppositionelle SPD laut zu sagen. Gleichwohl war es ein wesentlicher Impuls für die neue Ostpolitik, mit der die erste sozialliberale Bundesregierung unter Führung von Willy Brandt 1969 antrat.

Was änderte sich mit dem politischen Wechsel zu sozialliberalen Regierungen und zur Entspannungspolitik der 1970er-Jahre und mit dem Wechsel im Präsidentenamt von Butenandt zu Lüst? 

Es änderte sich einiges, aber anders als man erwarten würde. Als Lüst 1972 antrat, war Brandt noch Kanzler. Die im Tübinger Memorandum vorgedachte neue Außenpolitik wurde mit den Ostverträgen schnell umgesetzt. Man sollte meinen, dass die Max-Planck-Gesellschaft und die sozialliberalen Regierungen gut kooperierten. Aber die neue Ostpolitik erleichterte mitnichten die von MPG-Wissenschaftlern hochgeschätzte Zusammenarbeit mit sowjetischen Kollegen, vor allem in den aufwendigen gemeinsamen Projekten der Astrophysik, Weltraumforschung, Radioastronomie und Plasmaphysik. Vielmehr wollte die seit 1974 von Helmut Schmidt geführte Bundesregierung gerade diese auch von sowjetischer Seite geschätzten wissenschaftlichen Kooperationen mit der MPG als politisches Druckmittel einsetzen, um Moskau endlich deutschlandpolitische Zugeständnisse abzuringen, insbesondere beim umstrittenen Sonderstatus Berlins. Bis in die Ära Gorbatschow hinein bewegte sich hier nichts. Im Gegenteil: Mit dem sowjetischen Einmarsch in Afghanistan 1979 und dem Ende der Entspannungspolitik wurde alles noch schwieriger. Es blieb ein zähes Ringen mit der Bonner Außenpolitik um jedes größere Projekt mit sowjetischen Kollegen, das die Max-Planck-Gesellschaft keineswegs immer für sich und die bilaterale Forschung entscheiden konnte.

Während Reimar Lüsts Präsidentschaft wurde alles nur noch unter dem Aspekt wissenschaftlicher Kooperation betrachtet.

In der Tat. In den 1970er-Jahren begann man in der Generalverwaltung das Verhältnis der MPG zur nationalen, aber auch zur europäischen und internationalen Politik neu zu definieren. Die Konflikte mit der Bundesregierung um die Kooperationsprojekte mit sowjetischen Instituten mögen ein Anlass gewesen sein. Aber es kamen weitere Faktoren hinzu, vor allem die anhaltende Stagflation: Es musste gespart werden. Wenn man etwas Neues machen wollte, musste man etwas anderes beenden. In der Wirtschaft würde man sagen: Man muss sich auf das Kerngeschäft konzentrieren. Und für Lüst und viele seiner Kollegen vor allem aus den physikalisch-technischen Instituten waren das die instrumentell aufwendigen, kostenintensiven Großprojekte, die finanziell überhaupt nur in bi- oder multilateralen Kooperationen zu stemmen waren. Außenpolitische Restriktionen waren Hindernisse auf diesem Weg zum wissenschaftlichen Fortschritt, die es auszuräumen galt. Argumentativ mochte es hier helfen, auf einer strikten Trennung von Politik und Wissenschaft zu insistieren.

Nichtsdestotrotz hat Lüst eng mit Helmut Schmidt zusammengearbeitet.

Ja, daraus hat sich eine lebenslange Freundschaft entwickelt – trotz ihrer konträren Vorstellungen vom Verhältnis von Wissenschaft und Politik. Lüst konzentrierte sich auf die Sicherung der Ressourcen der Max-Planck-Institute. Weder wollte er der Politik mit sublimen wissenschaftlichen Weltsichten zu nahetreten, noch wollte er sich von der Politik sagen lassen, welche Forschungsrichtungen in der Max-Planck-Gesellschaft neu aufgenommen, verstärkt oder eingestellt werden sollten. Vielmehr verteidigte er – vielleicht noch puristischer als die Vorgänger – das in der Nachkriegszeit in der Bundesrepublik etablierte Verständnis einer allein vom Erkenntniswillen getriebenen Grundlagenforschung und die so legitimierte, international einzigartige institutionelle Autonomie der Max-Planck-Gesellschaft. Die Abwicklung des Starnberger Instituts und der thematische Umbau des MPI für Bildungsforschung um 1980, also der beiden unter Butenandt gegründeten politischen Institute, fügten sich in diese Strategie der Grenzziehung zwischen den gesellschaftlichen Sphären von Wissenschaft und Politik.

Helmut Schmidt erwartete sich hingegen als Bundeskanzler von der Wissenschaft durchaus Beratung.

Ja, Schmidt argumentierte mit weberianischer Verantwortungsethik: Wie kann ich als Politiker, zumal als Regierungschef, ethisch und politisch verantwortliche Entscheidungen treffen, die auf dem breitestmöglichen Fundament von Wissen, insbesondere auch wissenschaftlichem Wissen beruhen? Von der Wissenschaft im Allgemeinen und der Max-Planck-Gesellschaft im Besonderen erwartete er, dass sie ihm dieses Wissen, die ihnen möglichen Einsichten in komplexere naturwissenschaftliche und gesellschaftliche Zusammenhänge vermittelten. In seiner Antrittsrede als Bundeskanzler bei der Hauptversammlung der Max-Planck-Gesellschaft 1975 mahnte er die Bringschuld der Wissenschaft an – eine Formulierung, die gerade in den Debatten um den Klimawandel wieder häufig zu hören ist.

Und hier zog Lüst eine Grenze.

Er erklärte die MPG für unzuständig. Als Institution der Grundlagenforschung liefere sie keine unmittelbar politisch umsetzbaren Einsichten, dürfe sich daher gar nicht anmaßen, die Politik zu beraten. Die These von der Bringschuld der Wissenschaft parierte Lüst 1982, als Schmidt ein zweites und letztes Mal als Bundeskanzler bei der Hauptversammlung sprach, mit der Holschuld der Politiker. Sie sollten sich gefälligst ernsthaft mit den Wissenschaftlern auseinandersetzen, statt für alles und jedes Gutachten anzufordern. Schmidt gab jedoch nicht klein bei, sondern verlangte von den Wissenschaftlern „die Anstrengung zum ordnenden Überblick“; sie, die das außerordentliche Privileg hätten, ihr Hobby zum Beruf machen zu können, sollten sich ihrer sozialen Verantwortung denen gegenüber bewusst sein, die in den Fabriken die Mittel dafür erarbeiteten. Sie schuldeten der Gesellschaft nicht nur wissenschaftlich hochspezialisierte Spitzenleistungen, sondern auch das Bemühen um eine „Gesamtschau“. Im Grunde forderte er von der Max-Planck-Gesellschaft genau das, was Heisenberg, Butenandt und Weizsäcker zwanzig Jahre zuvor für sich in Anspruch genommen hatten, was die MPG aber im Einschwenken in den gesellschaftlichen Differenzierungsprozess aus ihrem Portfolio aussortiert hatte.

Dieser Schlagabtausch war wirklich sehr spannend.

Ja, in der Zeit von Lüst und Schmidt wurde über das Verhältnis von Wissenschaft und Politik noch gestritten. Das aber hörte in den 1980er-Jahren auf. Für Lüsts Nachfolger, Heinz Staab, galt es nur noch, alles abzublocken, was die Max-Planck-Gesellschaft in die Nähe der Politik bringen könnte. Etwa die von einigen bundesdeutschen Politikern erbetene Aufklärung über die Machbarkeit und Sinnhaftigkeit der von US-Präsident Ronald Reagan 1983 verkündeten Strategic Defense Initiative (SDI). Wo sonst als in der MPG war in der Bundesrepublik entsprechendes Wissen konzentriert? Wer kannte sich hierzulande im Weltraum besser aus als die hochqualifizierten Astronomen, Astrophysiker und Radiochemiker der einschlägigen Max-Planck-Institute? Aber Staab vertrat den Standpunkt, die Max-Planck-Gesellschaft könne sich wegen der Verpflichtung auf Grundlagenforschung und die umgehende Publikation ihrer Forschungsergebnisse weder an militärischen Forschungen mit den begleitenden Geheimhaltungsregularien beteiligen, was im Übrigen niemand erwartet hätte, noch gebe es in ihren Reihen hinreichende Expertise, um das SDI-Programm einzuschätzen. Doch gerade Letzteres wurde von wissenschaftlichen Mitarbeitern der Chemisch-Physikalisch-Technischen Sektion durchaus anders gesehen.

Hans-Peter Dürr, Direktor am Werner-Heisenberg-Institut, zum Beispiel hat sich mit dem SDI-Programm intensiv auseinandergesetzt und dazu auch einen langen Spiegel-Artikel geschrieben.

Dürr versuchte, unter Berufung auf die amerikanische Union of Concerned Scientists, nachzuweisen, dass das SDI-Programm nicht so rasch und, wenn überhaupt, nur unter immensen Kosten realisierbar sei. Vor allem aber widersprach er dem Versprechen Reagans, man könne sich mit einem entsprechenden Schutzschild gegen Atombomben der gegnerischen Seite effektiv schützen. Die dafür erst zu entwickelnden empfindlichen Satelliten seien schneller und billiger zerstört als hergestellt. Damit begab er sich auf Konfrontationskurs mit der von Helmut Kohl geführten Bundesregierung – aber auch mit der MPG-Führung, die sein Engagement geradezu abstrafte. Mehrfach wurde er als ein abschreckendes Beispiel für politischen Dilettantismus MPG-öffentlich vorgeführt. Das ging so weit, dass Staab ihm in einer explizit informell gehaltenen, handschriftlichen Gratulation zum Alternativen Nobelpreis, den Dürr für sein friedens- und umweltpolitisches Engagement 1987 erhalten hatte, noch einmal vorbuchstabierte, wie er die Rollen des Staatsbürgers und des Wissenschaftlers auseinanderzuhalten habe und dass er keinesfalls als MPI-Direktor politisch auftreten dürfe.

Dabei ist es illusorisch anzunehmen, dass man sich öffentlich als Staatsbürger äußert, ohne seinen Titel zu nennen.

Natürlich, und es würde nichts helfen. Die Medien verzichten selten darauf, einen MPI-Direktor als solchen zu präsentieren, um mit dem wissenschaftlichen Nimbus der Max-Planck-Gesellschaft dessen oder auch die eigenen Aussagen aufzuwerten. Insofern werden MPI-Direktoren stets als Repräsentanten der MPG wahrgenommen. Selbst auf der Ebene der Mitarbeitenden ließ sich das nicht immer verhindern. Lüst und Staab, die es versuchten, mussten sich vom Sozialrechtler Hans Zacher aufklären lassen, dass man öffentliche Stellungnahmen, Resolutionen oder Zeitungsannoncen nicht ohne Schaden für die Max-Planck-Gesellschaft unterbinden kann. Denn die Mitarbeitenden hätten durchaus das Recht, sich auf das bisherige Gebaren zu berufen. Und sie beriefen sich tatsächlich auf die ältere Generation inzwischen verstorbener oder emeritierter MPG-Repräsentanten, die sich in den 1950er- und 1960er-Jahren mit Radioaufrufen gegen die Atombewaffnung, mit dem Mainauer Manifest, der Göttinger Erklärung oder dem Tübinger Memorandum öffentlich positioniert hatten. Die aufbegehrenden jüngeren Mitarbeitenden stellten sich damit in eine MPG-Tradition, die unter der Präsidentschaft Lüsts und seiner Nachfolger gekappt werden sollte.

Die Frage nach der Rollentrennung bleibt virulent – mit Paul Crutzen, mit der Klimaforschung, einer Forschung, die aufzeigt, wo die Probleme liegen und was getan werden muss.

Crutzen und seine Kollegen am Max-Planck-Institut für Chemie in Mainz wurden von ihren Forschungsergebnissen auf die politische Bühne gedrängt. Crutzen hätte, wie er selbst sagte, lieber die Gesetzmäßigkeiten in einer sauberen Atmosphäre, quasi in deren Urzustand erforscht. Leider war sie aber so nicht zu haben, sie war verschmutzt, und es war weder möglich noch sinnvoll, die anthropogen induzierten Veränderungen herauszurechnen. Die Ergebnisse dieser „unreinen“ Forschungen waren absolut beunruhigend. Sie ließen ihm kaum eine andere Wahl, als sie und sich in die politische Debatte einzubringen. Dies tat er vor allem in dem auch für die Max-Planck-Gesellschaft reputierlichen Rahmen des International Council of Scientific Unions, später auch mit populärwissenschaftlichen Publikationen. Und selbstverständlich würde man seitens der MPG-Führung einen mit einem richtigen – und nicht wie Dürr nur mit einem Alternativen – Nobelpreis ausgezeichneten Kollegen nicht wegen öffentlicher Auftritte abmahnen.

Ist es nachvollziehbar, dass die Max-Planck-Gesellschaft immer wieder so viel Zurückhaltung geübt hat? Unterschätzt sie mit ihrem Primat für die wissenschaftliche Kooperation vielleicht manchmal auch die damit verbundenen Nebenwirkungen?

Historisch nachvollziehbar sind die Entwicklungen hin zu einem Verständnis der Max-Planck-Gesellschaft als eines wider besseres Wissen möglichst politikfrei zu haltenden Raums durchaus. Wie man dies heute politisch bewertet, ist eine andere Frage. Es wurde kolportiert, Martin Stratmann habe während seiner gerade abgelaufenen Präsidentschaft die politischen Intellektuellen innerhalb der MPG vermisst. Wir konnten hingegen sehen, wie diese bis in die 1990er-Jahre hinein an den Rand gedrängt wurden. Man kann nur hoffen, dass sich das wieder ändert. Ich würde mir wünschen, dass die Max-Planck-Gesellschaft mit dem Wissen, dass es einen politikfreien Raum der reinen Grundlagenforschung nie gegeben hat und nie geben wird, offensiver umgeht und sich den politischen Herausforderungen auch öffentlich vernehmbar stellt. Dies gilt erst recht für die internationale wissenschaftliche Kooperation, denn universale Wissenschaft findet auf international vermintem Gelände statt, wie sich gerade im Fall von zwei der wichtigsten Partnerländer der MPG, Russland und China, wieder zeigt. Eine Stimme wie die der MPG im politischen Diskurs, die sich mit den politischen Ambivalenzen internationaler wissenschaftlicher Zusammenarbeit auseinandersetzt, wird gebraucht.

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