Nächste Stelle Osteuropa?
Wissenschaftler nutzten Linkedin-Daten, um nachzuvollziehen, wohin Fachkräfte innerhalb der EU umziehen wollen
Für Fachkräfte, die eine neue Stelle suchen, sind osteuropäische Staaten bislang nur wenig attraktiv. Das ergab eine Studie von Forschenden des Max-Planck-Instituts für demografische Forschung in Rostock gemeinsam mit einer niederländischen Kollegin. Wie ihre Auswertung von Daten des Karrierenetzwerks Linkedin ergab, wollen vergleichsweise wenige Berufstätige aus nord-, süd- und westeuropäischen Ländern Richtung Osten ziehen. Doch die Attraktivität Osteuropas könnte sich in den kommenden Jahren ändern.
Als treibende Kraft für wirtschaftliche, demografische, soziale und politische Entwicklungen ist die Zuwanderung qualifizierter Arbeitskräfte für die Politik von großer Bedeutung. Doch Studien dazu krankten bisher oft an unvollständigen Statistiken, veralteten Daten und Erhebungen mit begrenztem Umfang. Ein Forscherteam aus Rostock und den Niederlanden hat mit seiner Studie, die in den Proceedings of the International AAAI Conference on Web and Social Media erschienen ist, nun einen neuen Weg eingeschlagen. Die Forschenden nutzten dafür das Recruiter-Tool von Linkedin. Damit suchten sie in den 27 Ländern der Europäischen Union sowie in Großbritannien nach Nutzenden, die in ihren Profilen angegeben hatten, für einen neuen Job auch in ein anderes Land zu ziehen. „Mit Linkedin hatten wir die Möglichkeit, eine bisher ungenutzte Datenquelle zu erschließen, um das Interesse von Fachkräften an Migration umfassend zu betrachten“, sagt Emilio Zagheni, Mitautor der Studie und Direktor am Max-Planck-Institut für demografische Forschung. Die Daten wurden zwischen Oktober 2020 und September 2021 erhoben, also vor dem russischen Einmarsch in der Ukraine.
„Wenn Menschen befragt werden, sind ihre Umzugsabsichten oft vage und ein Umzug kommt vielleicht nie zustande“, erklärt Zagheni. „Ein wesentlicher Unterschied in unserer Studie besteht darin, dass wir das Verhalten auf LinkedIn untersucht haben. Personen, die ihr Interesse an einem Arbeitsplatzwechsel äußern, befinden sich in der Regel bereits in einem fortgeschrittenen Planungsstadium. Wenn sich die Gelegenheit ergibt, sind sie vielleicht wirklich offen für einen Umzug.“ Die Daten könnten damit auch Hinweise auf künftige Migrationsbewegungen innerhalb Europas geben.
Nord- und Westeuropa am attraktivsten
In absoluten Zahlen sind Nord- und Westeuropa für LinkedIn-Nutzer am attraktivsten, fanden die Forscher heraus. Von den Fachkräften, die bereit waren, für eine neue Stelle umzuziehen, strebten etwa 60 Prozent in Länder wie Belgien, die Niederlande, Deutschland oder Schweden. Rund 40 Prozent waren an Arbeitsplätzen in Italien, Spanien und anderen südeuropäischen Ländern interessiert, während nur 30 Prozent Interesse an einer Stelle in Osteuropa zeigten.
Viele Linkedin-Nutzer, die einen Umzug in ein osteuropäisches Land in Betracht zogen, lebten zudem bereits in der Region oder in deren Nähe. „Für einen Umzug nach Bulgarien zeigten eher Menschen aus Österreich oder Griechenland Interesse oder aus Ländern wie Rumänien und Tschechien. Es ist sehr viel wahrscheinlicher, dass Menschen aus Ländern, die geografischen näher entfernt liegen, nach Osteuropa gehen wollen", sagt Zagheni.
Eine Ausnahme bildeten weiter entfernte Länder, in denen größere Gruppen osteuropäischer Fachkräfte leben. „Wir sehen an den Daten, dass Fachkräfte aus Deutschland und dem Vereinigten Königreich sehr offen dafür sind, nach Polen zu ziehen. Wir gehen davon aus, dass dies teilweise auf Remigration hindeutet.“ Mit anderen Worten: Polnische Fachkräfte möchten gerne in ihre Heimat zurückkehren.
Aber warum ist das Interesse, nach Osten zu ziehen, so gering? Da Visa und Arbeitsgenehmigungen in der Europäischen Union keine Rolle spielen, vermutet Zagheni, dass Sprachbarrieren und schwächere Volkswirtschaften eine wichtige Rolle spielen. „Aus den Daten von Linkedin lässt sich am ehesten darauf schließen, dass die Beschäftigungsmöglichkeiten den Ausschlag geben.“
Künftige Potenziale in Osteuropa
Ein Mangel an geeigneten Arbeitsplätzen in einer Region kann manchmal sogar eine ansonsten vorhandene Bereitschaft verdecken, dorthin zu ziehen. Dies stellen die Forschenden im Südeuropa fest: Zwar ergaben die Gesamtzahlen, dass die Mehrheit der migrationsbereiten Linkedin-Nutzer in den Norden oder Westen ziehen möchte – in Regionen der EU, in denen es viele Arbeitsplätze gibt. Aber als die Wissenschaftler Faktoren wie Unterschiede in der Bevölkerungsdichte sowie der Internet- und LinkedIn-Verbreitung berücksichtigten, erkannten sie, dass auch Südeuropa ein sehr begehrtes Ziel ist.
„Unerwarteterweise gab es in Nord- und Westeuropa einen höheren Anteil von Menschen, die in den Süden ziehen wollten, als wir aufgrund der Unterschiede bei den demografischen Faktoren, der Internetnutzung und ähnlichen Variablen erwartet hätten. Wir interpretieren diese Beobachtung als Zeichen eines Missverhältnisses zwischen dem Mangel an Möglichkeiten in Südeuropa und der Zahl der Menschen, die potenziell in den Süden ziehen wollen", sagt Zagheni.
Ähnliches könnte in Osteuropa bald ebenfalls der Fall sein, meint der Wissenschaftler. „Länder wie Rumänien und Polen haben große, noch nicht ausgeschöpfte Potenziale. Strukturell könnten bereits Faktoren vorhanden sein, die dazu führen, dass mehr Menschen dorthin ziehen wollen. Dazu gehört der Wunsch nach Rückkehr in die Heimat für einen großen Kreis hochqualifizierter Auswanderer. Dann kommt es nur noch darauf an, den Menschen die richtigen Anreize und Möglichkeiten zu bieten.“
Darüber hinaus scheint Osteuropa bereits für Arbeitssuchende aus anderen Teilen der Welt attraktiv zu sein, wie Zagheni hervorhebt. Nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine, zogen viele Menschen von dort nach Polen oder in die Tschechische Republik. „In den osteuropäischen Ländern macht sich die Politik oft Sorgen um eine schrumpfende Bevölkerung. Aber das ist gar nicht unbedingt berechtigt. Denn in anderen Regionen vor allem außerhalb Europas kann es Menschen geben, die es besonders attraktiv finden, dort hinzuziehen."
Ute Eberle