Von der Natur inspirierte Substanzen schalten Krebsgen aus

Forschende eliminieren RNA von Krebsgenen mit Natur-inspirierten Substanzen

Das Krebsgen MYC treibt das ungebremste Wachstum der meisten menschlichen Krebsarten an. Es wird als der "Mount Everest" der Krebsforschung bezeichnet aufgrund der Schwierigkeit, Substanzen zu entwickeln, die es ausschalten können. Forschungsgruppen vom Wertheim UF Scripps Institute in Florida, dem Max-Planck-Institut für molekulare Physiologie in Dortmund und der Universität Münster haben von der Natur inspirierte Substanzen entwickelt, die die RNA von MYC zerschneiden und so das Krebsgen inaktivieren. Dieser innovative Ansatz zum Abbau der RNA könnte auch bei der Entwicklung neuer Therapiemöglichkeiten bei ähnlich schwer zu behandelnden Krankheiten helfen.

Die Art und Weise wie Krebszellen wachsen, sich teilen und ausbreiten, wird maßgeblich von bestimmten Proteinen gesteuert, was sie zu einem wichtigen Ziel in der Krebsforschung und -therapie macht. Dennoch konnten bisher nur für einen Bruchteil dieser krebstreibenden Proteine Substanzen entwickelt werden, die sie erfolgreich unschädlich machen.

Eine alternative Strategie stellt der Angriff auf die RNA der Krebsgene dar. RNA hat viele Funktionen: Sie dient nicht nur als Vorlage für den Bau der Proteine, sondern reguliert durch das Zusammenspiel mit einer Vielzahl von zellulären Molekülen auch die Homöostase in gesunden Zellen und Krebszellen. Die Strukturen der RNA sind jedoch so vielfältig und veränderlich, dass die Pharmaindustrie den Versuch, RNA-angreifende Medikamente zu entwickeln, als sinnloses Unterfangen abgetan hat.

RNA im Visier um Krebs zu stoppen

Dennoch ist es Matthew Disney und seiner Gruppe am Wertheim UF Scripps Institute im Laufe der letzten 15 Jahre gelungen, viele konservierte, angreifbare RNA-Strukturen zu identifizieren. Disneys Team baute eigene Wirkstoffsammlungen auf und zeigte an Mäusen, dass der Angriff auf bestimmte RNAs bösartige Tumore beseitigen kann und den Verlauf andere Krankheiten wie ALS und myotonische Dystrophie verbessern kann. Als Herbert Waldmann vom Max-Planck-Institut für molekulare Physiologie und Disney 2016 auf einer Wissenschaftskonferenz in Spanien nach einem Vortrag ihre Notizen verglichen, kam ihnen die Idee zu einer Partnerschaft. Beide waren sich einig, dass der gezielte Einsatz von RNA-Medikamenten eine spannende Möglichkeit darstellt, unheilbare Krankheiten zu bekämpfen. Aber das war Zukunftsmusik, denn bisher gab es noch nichts Vergleichbares auf dem Markt. 

Im Jahr 2018 besuchten zwei Forschende aus Disneys Gruppe das Waldmann-Labor in Dortmund und suchten mit den dort entwickelten Screening-Methoden und Substanzbibliotheken, die viele von der Natur inspirierte Verbindungen enthielten, nach potenziellen RNA-bindenden Substanzen. Die Ergebnisse übertrafen Disneys Erwartungen: Das Universum der bekannten, arzneimittelwirksamen RNA-Strukturen hatte sich enorm erweitert. "Wir haben rund 2.000 neue RNA-Strukturen entdeckt, die arzneimittelähnliche kleine Moleküle binden können, und sechs neue Chemotypen identifiziert, die RNA binden können", so Disney. "Im Grunde haben wir damit eine einzigartige Enzyklopädie der arzneimittelwirksamen RNA-Strukturen geschaffen." 

Einige der Substanzen in der Bibliothek stammten vom Team um den Chemiker Frank Glorius von der Universität Münster. "Wir entwickeln Moleküle, die in verschiedenen biologischen Bereichen eine gesuchte Funktion aufweisen, wie die Verbindungen in der Bibliothek, die ursprünglich zur Beeinflussung der Biologie in Zellmembranen entwickelt wurden. Aber wir hätten nie erwartet, dass sie RNA-Strukturen binden können", sagte Glorius. Die Verbindungen, die von Imidazol abgeleitet sind, einem Molekül, das in Naturprodukten und Arzneimitteln häufig vorkommt und mit kohlenstoffbasierten Ketten modifiziert wurde, erwiesen sich schließlich als am effektivsten bei der Bindung an die RNAs der Krebsgene MYC, JUN und microRNA-155.

 

RNA-Killer

Eine Bindung der RNA durch die Moleküle allein reichte jedoch nicht aus, um eine Wirkung zu erzielen. Daher entwickelte Disneys Team eine innovative Methode, um die krankheitsverursachenden RNA-Abschnitte zu entfernen: Sie befestigten einen chemischen Angelhaken an den RNA-bindenden Molekülen, um so RNA-recycelnde Enzyme der Zelle einzufangen. Und die Strategie ging auf: Die RNA-Recycling-Enzyme zerkleinerten die vom Molekül gebundene RNA, womit die Bildung der krankheitsverursachenden Proteine verhindert wurde. Das entwickelte Hybridmolekül nannten sie RIBOTAC, kurz für "ribonuclease targeting chimera". "Mit unserer neuen Strategie konnten wir die Menge an RNA der Krebsgene um 35, 40, 50 Prozent oder mehr reduzieren. Dies führte zum Absterben von Krebszellen und zur Beseitigung von Tumoren in mäusebasierten Studien mit Brustkrebs, der sich auf die Lunge ausbreitete", so Disney.

"Diese Studie zeigt, dass von Naturprodukten inspirierte Substanzklassen generell eine reichhaltige, neue Quelle für die Bekämpfung von Krankheiten auf RNA-Ebene bieten. Natürlich entwickeln wir sie nach unserem Konzept der Pseudonaturstoffe weiter", so Waldmann. „Da die Strategie so neuartig ist, wird es aber mehrere Jahre weiterer Arbeit erfordern, bevor diese Innovationen PatientInnen in einer klinischen Studie erreichen“, fügt Waldmann hinzu. "Dies ist ein sehr langer Weg, eigentlich ein Marathonlauf.“

"Die Studie ist ein guter Ausgangspunkt und zeigt uns, wo wir ansetzen müssen, um kleine Moleküle und RNA-gerichtete Medikamente zu entwickeln, mit denen schließlich PatientInnen mit Krankheiten wie aggressiven Krebsarten behandelt werden könnten, für die es derzeit nur wenige oder gar keine Optionen gibt", so Disney. "Unsere neusten Daten zeigen uns auch, dass dieser Ansatz bei vielen anderen Krankheiten Anwendung finden könnte".

MYC, JUN und MIR155

MYC ist eines der wichtigsten und schwierigsten „Zielmoleküle“ in der Krebsforschung für Arzneimittel. Seine Aktivierung steht im Zusammenhang mit 70 Prozent oder mehr aller menschlichen Krebsarten und ist verantwortlich für die Kontrolle vieler Gene. Es beeinflusst das Zellwachstum und die lebenswichtige Apoptose, den programmierten Zelltod, die die Selbstzerstörung geschädigter Zellen veranlasst. Es beeinflusst auch den Reparaturprozess geschädigter DNA und das Wachstum von Blutgefäßen. Bei vielen Krebsarten ist MYC überexprimiert, was dazu führt, dass die Zellen zu schnell wachsen und sich teilen. 

Die Aktivierung eines anderen Krebsgens, JUN, wurde bei mehr als 20 verschiedenen Krebsarten festgestellt, darunter Glioblastom, Brust-, Prostata-, Lungen- und Darmkrebs und mehr. Die microRNA MIR155 ist für Entzündungen sowie für das Wachstum und die Ausbreitung vieler Krebsarten verantwortlich. Forschende haben festgestellt, dass es bei Brust-, Nieren-, Magen- und anderen Krebsarten aktiviert ist.

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