Wo Mehrsprachigkeit die Norm ist
Ein Forschungsteam hat untersucht, wie Kinder auf der Insel Malakula in Vanuatu Sprache verarbeiten
Wie Kinder ihre Muttersprache erwerben, hat Forschende schon immer fasziniert. Die meisten dieser Studien haben sich jedoch auf Kinder mit nur einer Muttersprache konzentriert, die in den Vereinigten Staaten mit Englisch aufgewachsen sind. Mitglieder der Forschungsgruppe Language Acquisition across Cultures am Labor für Kognitionswissenschaften und Psycholinguistik der Ecole Normale Supérieure und Heidi Colleran, Leiterin der BirthRites-Forschungsgruppe am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie, haben gemeinsam untersucht, wie Kinder, die in einer mehrsprachigen Gesellschaft aufwachsen, Sprache erwerben.
Spracherwerb ist ein universelles menschliches Phänomen. Es gibt keine menschliche Kultur ohne Sprache, und in jeder Kultur übernehmen Kinder ganz natürlich die Sprache oder Sprachen ihrer Umgebung. Doch Kulturen und Sprachen sind äußerst vielfältig. Wie gelingt es unserem kognitiven Apparat, sich an mehrsprachige Situationen anzupassen, statt nur an einsprachige? Bislang blieb diese Frage unbeantwortet, da nur sehr wenige Studien mehrsprachige Bevölkerungsgruppen und/oder solche außerhalb des globalen Nordens untersucht haben.
Heidi Colleran vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig schlug vor, die Spracherfahrungen von Kindern auf der Insel Malakula im Archipel von Vanuatu im Südpazifik zu untersuchen, wo Mehrsprachigkeit die Norm ist. Dort arbeitete sie mit Familien zusammen, um im Rahmen ihrer langfristig angelegten Feldforschung zu Demografie und Kultur auf der Insel den natürlichen Sprachkosmos von Kindern zu dokumentieren. Familien aus 11 verschiedenen Dörfern erklärten sich bereit, an dieser Studie teilzunehmen, wohl wissend und stolz darauf, auf einer Insel mit der größten Sprachendichte der Welt zu leben - etwa 40 Sprachen bei einer Bevölkerung von etwa 25.000 Menschen. "Insgesamt 38 Kinder im Alter von fünf bis 33 Monaten, die 22 Sprachvarietäten repräsentieren, nahmen an unserer Studie teil", sagt Alejandrina Cristia, Leiterin der Forschungsgruppe Language Acquisition across Cultures. "Nach Angaben ihrer Eltern hörten diese Kinder im Durchschnitt 2,6 Sprachen regelmäßig, und insgesamt bis zu acht verschiedene Sprachen."
USB-Aufzeichnungsgerät für unterwegs
Zur Datenerfassung verwendete das Team ein Aufnahmegerät von der Größe eines USB-Sticks, das die Kinder den ganzen Tag über in speziell dafür entworfenen Baumwoll-T-Shirts trugen. Dies ist eine vielversprechende Technik, weil sie sehr praktisch ist: Sie erzeugt Langzeitaufnahmen, die die Alltagserfahrungen der Kinder ohne die störende Anwesenheit von Forschenden gut wiedergeben. Die geringe Größe macht es zu einem unauffälligen Instrument, das von den Kindern und ihrem sozialen Netzwerk sehr schnell angenommen wird und dessen Existenz sie bald vergessen. "Die Kinder tragen das Aufnahmegerät direkt an ihrer Kleidung und sind in ihrer Bewegungsfreiheit nicht eingeschränkt", sagt Cristia. "Das ist besonders wichtig in Kulturen, in denen Kinder den ganzen Tag über von mehreren Personen betreut werden und in denen sie mit anderen Kindern spielen dürfen, sobald sie laufen können.”
Da die Aufnahmelänge das Transkribieren erschwert, hat das Team ein automatisiertes Analysesystem entwickelt, das auf künstlicher Intelligenz basiert und verschiedene Arten von Stimmen identifizieren kann: die des Zielkindes, das das Aufnahmegerät trägt, die anderer Kinder sowie die männlichen und weiblichen Stimmen von Erwachsenen "Die Datenanalyse ergab, dass die Kinder im Durchschnitt elf Minuten Sprache pro Stunde hörten. Das sind etwa fünf Minuten bzw. 31 Prozent weniger als in zuvor untersuchten einsprachigen Populationen", sagt Heidi Colleran, Leiterin der BirthRites Forschungsgruppe. "Dennoch produzierten die Kinder in mehrsprachigen Populationen etwa genauso viel und manchmal sogar mehr Sprache als in den untersuchten einsprachigen Populationen." Interessanterweise war der stärkste Zusammenhang zwischen der gehörten und der produzierten Sprachmenge bei Vokalisationen anderer Kinder und nicht bei denen von Erwachsenen festzustellen. Dies weist darauf hin, dass nicht nur die Eltern, sondern auch andere Kinder für den Spracherwerb wichtig sind.
Diese Ergebnisse ermutigen zu weiteren Forschungsprojekten mit bisher unterrepräsentierten Gruppen und unterstreichen die Notwendigkeit, bei der Untersuchung des Spracherwerbs beim Menschen die Vielfalt der Sprachen, Kulturen und demografischen Strukturen zu berücksichtigen.
SJ