Wie das Hirn erwachsen bleibt

Neuronale Granula als Bewahrer des ausgewachsenen Nervensystems identifiziert

30. September 2022

Nervenzellen in Fruchtfliegen aber auch in anderen Lebewesen nutzen Zelleinlagerungen aus RNA-Molekülen und Eiweißen, um ihre Genexpression und somit zelluläre Prozesse zu regulieren. Forscherinnen und Forscher am Max-Planck-Institut für Immunbiologie und Epigenetik haben bei der Erforschung dieser sogenannten Neuronen-Granula und deren Bestandteile nicht nur entdeckt, wie und wann diese Einschlüsse entstehen, sondern zudem auch zeigen können, dass die Zelleinschlüsse entscheidend dafür sind, um den Reifegrad der Zellen des ausgewachsenen Nervensystems zu bewahren. Die Erkenntnisse in der Fruchtfliege Drosophila haben auch Relevanz für die Erforschung neurodegenerativer Erkrankungen.

Das Nervensystem eines jeden Organismus besteht zum großen Teil aus Neuronen. Während der Entwicklung entstehen diese Zellen aus neuronalen Stammzellen, die sich immer wieder teilen und nach und nach ein dicht verzweigtes Netz von Verbindungen zueinander aufbauen. Die Neuronen des Gehirns kommunizieren über dieses Netz, indem sie elektrische Signale senden und empfangen.

Eine exakte Regulation der Genexpression ist für die korrekte Funktion der Neuronen im sich entwickelnden und erwachsenen Gehirn von entscheidender Bedeutung. Die Zellen erreichen das, indem sie die Menge oder den Einsatzort des Botenmoleküls RNA und somit die Eiweißproduktion verändern. Neuronen setzen dafür auf verschiedene Strategien. Zu diesen Strategien gehört auch die Bildung sogenannter Ribonukleoprotein-Granula. Dabei handelt es sich um membranlose Bereiche in den Zellen, die aus RNA und RNA-bindenden Eiweißen bestehen. Mithilfe dieser wie kleine Körnchen aussehenden Einlagerungen in den Zellen werden viele zelluläre Prozesse beeinflusst, die vor allem eine komplexe Eiweißverteilung erfordern.

Die nichtkodierende RNA mimi leitet die Kondensation von Proteinen in Nervenzellen ein

Neuronen lagern Eiweiße und die mit ihnen verbundenen RNAs in diese Granula ein, um die Effizienz zu optimieren und große Mengen von Transkripten koordiniert zu regulieren. Bei der Untersuchung dieser Einlagerungen war es bislang nicht möglich, die Rolle der neuronalen Granula an sich von der Funktion der Eiweiße zu trennen, die die Granula bilden. „Stets führt die Entfernung von Schlüsseleiweißen der Granula nicht nur zur Auflösung des Granulums, sondern auch zur Unterbrechung anderer Eiweißfunktionen”, sagt Valérie Hilgers, Gruppenleiterin am Max-Planck-Institut für Immunbiologie und Epigenetik in Freiburg.

Mithilfe der Fruchtfliege Drosophila melanogaster hat das Labor von Valérie Hilgers jedoch eine hochspezifische und zwingend erforderliche Komponente eines besonders weit verbreiteten neuronalen Granulum-Typs identifiziert, der auch im Gehirn vieler anderer Lebenwesen, einschließlich dem des Menschen, in großer Zahl vorkommt. Diese Komponente, ein RNA-Molekül, bietet erstmals die Möglichkeit, Funktionen des Granulums unabhängig von den Funktionen seiner Bestandteile zu untersuchen. Das Team benannte das Molekül mimi, nach ihrer Entdeckerin und Doktorandin im Hilgers-Labor, Dominika Grzejda. „Als wir mimi entfernten, war die Bildung der Granula gestört, nicht aber die Expression anderer zentraler granulumbildender Proteine“, sagt Dominika Grzejda.

mimi-Granula bewahren das Nervensystem

Durch die Untersuchung von Neuronen der Fliege konnten die Forscherinnen und Forscher die physiologische Funktion des mimi-Granulums genauer bestimmten. Dabei stellt sich heraus, dass die mimi-RNA eine sehr ungewöhnliche Art von RNA ist: Sie kodiert nicht wie andere RNAs für ein bestimmtes Eiweiß, und das Molekül ist auch nicht während der Gehirnentwicklung vorhanden, sondern wird erst exprimiert, wenn die Fliegen das Erwachsenenalter erreichen – ein Stadium, das bei Drosophila mit dem Schlüpfen aus der Puppe beginnt. Ab diesem Zeitpunkt findet sich mimi jedoch extrem reichlich in den Neuronen, aber nur an einem bestimmten Ort: in den Granula. Das Freiburger Max Planck-Team konnte beweisen, dass mimi als architektonische RNA wie eine Art „Bauleiter“ für das neuronale Granulum fungiert. Denn sobald das Gehirn voll entwickelt ist, beginnen die mimi-Granula, sich um mimi herum zu sammeln.

„Über die eigentliche Rolle des mimi-Granulum haben wir herausfinden können, dass es Funktionen in erwachsenen Neuronen steuert, die für die Aufrechterhaltung des reifen molekularen Zustands der Zellen unerlässlich sind. Es sorgt sozusagen dafür, dass die Zellen erwachsen bleiben“, sagt Dominika Grzejda, Erstautorin der Studie. Ein Verlust der mimi-Granula unterbricht die durch Neuropeptide vermittelte Signalübertragung und führt zu einer Steigerung der Aktivität von Zellzyklusgenen. Deren Aktivität ist in ausdifferenzierten erwachsenen Neuronen, die sich nicht mehr teilen, normalerweise unterdrückt. Interessanterweise verursacht der Verlust dieses neuronalen Transkriptommusters und somit der Erwachsenenstatus der Zellen in mimi-Fliegenmutanten neurodegenerative Symptome. Das Max-Planck-Team beobachtete eine fortschreitende Verschlechterung der motorischen Funktionen der Fliegen und eine verkürzte Lebensdauer.

Mit diesen Befunden zu den molekularen Mechanismen neuronaler Granula, ihrer Bestandteile und der Folgen bei Unterversorgung im lebenden Organismus bietet die Studie nach Ansicht der Freiburger Forscherinnen und Forscher einen wichtigen Schritt hin zur Entwicklung wirksamer Behandlungen für neurologische Erkrankungen, die auf eine Fehlregulation der RNA-Protein-Kondensation zurückzuführen sind.

DG/VH/MR

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