Das Higgs-Teilchen wird zehn

Die genaue Kenntnis des Higgs-Bosons könnte bei der Antwort auf große offene Fragen der Physik helfen

4. Juli 2022

Vor genau zehn Jahren vermeldeten die Experimente Atlas und CMS einen durchschlagenden Erfolg: Nicht einmal drei Jahre nach dem Start des Large Hadron Collider (LHC) am Cern war das letzte fehlende Steinchen im Standardmodell der Teilchenphysik gefunden: Das Higgs-Boson, eine Art Botschafter des Higgs-Feldes, das allen Materieteilchen Masse verleiht. Zum Higgs-Geburtstag ziehen Physikerinnen und Physiker eine Bilanz, welche Erkenntnisse sie bislang gewonnen haben und welche Einsichten noch zu erwarten sind. 

Der 4. Juli 2012 stand ganz im Zeichen des Higgs-Bosons: Die Teilchenphysik jubelte über ihren Erfolg – und es gab kaum eine Zeitung oder eine Nachrichtensendung, die nicht über die Entdeckung berichtete. Nachdem das Theoretiker-Trio Peter Higgs, Robert Brout und François Englert das Elementarteilchen bereits in den 1960er-Jahren vorhergesagt hatten, dauerte es fast 50 Jahre, bis die passende Suchmaschine fertig war: Der Beschleunigerring LHC mit den Experimenten Atlas und CMS. Dort finden Proton-Proton-Kollisionen statt, in deren Trümmern Physikerinnen und Physiker mit Erfolg nach Spuren des vorhergesagten Higgs-Teilchen gesucht haben. 

Mit dem Higgs-Boson machte die Teilchenphysik ihr Standardmodell komplett: Zwölf Materieteilchen, vier Austauschteilchen und als Schlussstein das Higgs-Boson – das einzige Teilchen ohne Eigendrehimpuls (Spin). In diesem Teilchen manifestiert sich das Higgs-Quantenfeld, welches das Universum wie ein Sirup ausfüllt, der an den anderen Teilchen als Masse gewissermaßen kleben bleibt. 

Der zehnte Jahrestag der Entdeckung bietet Anlass, die vergangenen zehn Jahre wissenschaftlich Revue passieren zu lassen und in die Zukunft zu blicken. Zwei Forscherinnen am Max-Planck-Institut für Physik haben daher an Beiträgen in der aktuellen Nature-Ausgabe mitgewirkt. Sandra Kortner ist Co-Autorin eines Artikels des Atlas-Experiments, der über die neuesten Messungen der Higgs-Eigenschaften berichtet. Die theoretische Physikerin Giulia Zanderighi wirft einen Blick auf grundlegende Fragen im Zusammenhang mit dem Higgs-Boson. 

Was bisher geschah ...

Der Nachweis des Higgs-Bosons war nur der Anfang für weitere, intensive Studien. Im letzten Jahrzehnt hat das Atlas-Team die Eigenschaften des Teilchens mit hoher Präzision vermessen. Der Schwerpunkt der beiden langen Messreihen am LHC lag dabei auf den Wechselwirkungen des Higgs mit anderen (Austausch- und Materie-)Teilchen im Standardmodell. „Das Spannende ist, dass es so viel Neues zu sehen gibt. Die Wechselwirkungen mit den fünf schwersten bekannten Elementarteilchen konnten wir bereits nachweisen und vermessen, und zwei weitere deuten sich langsam an“, sagt Sandra Kortner, die am Max-Planck-Institut für Physik eine Arbeitsgruppe zur LHC-Physik leitet. „Die Ergebnisse passen tatsächlich sehr gut zu theoretischen Vorhersagen, die im Laufe der Zeit wesentlich genauer geworden sind.“

Woher kommt die Masse der Elementarteilchen?

Vor zehn Jahren, am 4. Juli 2012, wurde am Cern in Genf das Higgs-Teilchen entdeckt. Sandra Kortner vom Max-Planck-Institut für Physik war damals an der Entdeckung beteiligt und erzählt in diesem Podcast, wie das Higgs-Boson unser Verständnis des Universums veränderte - und noch verändert.

Seit der Higgs-Entdeckung wurden insgesamt fast 30.000 Higgs-Bosonen im Atlas-Detektor beobachtet. Vor einigen Wochen startete am LHC die dritte Messphase, die bis 2025 läuft. Sandra Kortner: „Danach werden wir das Higgs-Boson und seine Wechselwirkungen mit Elementarteilchen noch wesentlich genauer charakterisieren können und dabei möglicherweise auf neue Entdeckungen stoßen.“ 

... und vielleicht noch geschehen wird

Giulia Zanderighi, Direktorin der Abteilung „Innovative Berechnungsmethoden in der Teilchenphysik“ am Max-Planck-Institut für Physik ordnet die bisherigen Erkenntnisse zum Higgs-Boson gemeinsam mit anderen Autorinnen und Autoren aus theoretischer Perspektive ein. Unter anderem skizzieren die Forschenden verschiedene Szenarien, die sich in den Experimenten nachweisen lassen könnten. Ein Beispiel sind Wechselwirkungen mit leichteren Teilchen im Standardmodell – insbesondere den Myonen und Charm-Quarks. „Weitere Messungen könnten auch zeigen, dass das Higgs-Boson nicht elementar ist, sondern eine Unterstruktur aufweist“, sagt Zanderighi.

Außerdem bietet das Higgs-Boson Anknüpfungspunkte zu anderen großen offenen Fragen in der Teilchenphysik. „Das Higgs könnte zum Beispiel an der Inflation, also der sprunghaften Expansion des frühen Universums beteiligt sein“, erläutert Zanderighi. „Außerdem könnte das Higgs eine Art Portal zu Dunkler Materie sein. Und auch die Frage, warum es im Universum Materie, aber kaum Antimaterie gibt könnte im Zusammenhang mit dem Geburtstagskind stehen.“ Eine genaue Kenntnis der Eigenschaften des Higgs-Bosons könnte beim Verständnis dieser Zusammenhänge helfen. Physikerinnen und Physiker haben also genug Gründe, um das Elementarteilchen weiterhin intensiv zu untersuchen.

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