Forschungsbericht 2019 - Max-Planck-Institut für Bildungsforschung
Einfache Entscheidungsbäume helfen Verbrauchern, digitale Gesundheitsinformationen besser einzuschätzen
Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, Berlin
Stellen digitale Medien Gesundheitsinformationen qualitätsgesichert und verständlich dar? Oder wird der Nutzen aus kommerziellen Gründen übertrieben und werden Nebenwirkungen heruntergespielt? Um Gesundheitsleistungen zu prüfen, benötigen Verbraucher unabhängig verfasste und wissenschaftlichen Kriterien genügende Gesundheitsinformationen. Unsere Forschung zeigt jedoch, dass die wenigsten digitalen Gesundheitsinformationen im deutschsprachigen Raum informierte Entscheidungen ermöglichen. Wir haben 662 Gesundheitsinformationen auf deutschsprachigen Webseiten analysiert. Davon wurden 487 themenoffen von Experten gesammelt, während 175 weitere zu vorgegebenen Themen von Laien kamen. Alle Gesundheitsinformationen wurden auf zehn Qualitätsmerkmale hin untersucht. Diese Merkmale waren Ergebnis eines schrittweisen Auswahlprozesses im Hinblick auf Qualität beziehungsweise Qualitätsmängel.
Unter den analysierten Gesundheitsinformationen waren etwa neun von zehn nicht dazu gedacht oder nicht geeignet, informierte Entscheidungen vorzubereiten. Dies lag daran, dass es sich entweder um allgemeine, nicht entscheidungsrelevante Informationen handelte oder dass zentrale entscheidungsunterstützende Informationen (wie zum Beispiel der Nutzen und Schaden einer Therapie) fehlten.
Wie können Verbraucherinnen und Verbraucher die Verlässlichkeit von Gesundheitsinformationen prüfen?
Sogenannte Nutzeranleitungen [1] können im Alltag die Suche nach Gesundheitsinformationen unterstützen. Diese Anleitungen reduzieren die Unsicherheit darüber, ob eine bestimmte Gesundheitsinformation ein Mindestmaß an Qualität besitzt. Die wiederholte Verwendung solcher Anleitungen kann zudem die Kompetenzen von Laien fördern, wenn sie relevante Qualitätskriterien verinnerlichen. Die meisten Nutzeranleitungen wurden noch nicht validiert. Um die Komplexität beim Prüfen von Gesundheitsinformationen weiter zu reduzieren, entwickelten und validierten wir einen Entscheidungsbaum (einen sogenannten Fast-and-frugal Tree). Fast-and-frugal Trees sind für Laien nachvollziehbar und fördern gute Entscheidungen. Sie vereinfachen den Entscheidungsprozess, indem sie ihn auf eine Handvoll wichtiger Merkmale reduzieren, die von den Nutzern geprüft werden, und schlagen darauf basierend Entscheidungen vor. Jedem Merkmal folgt eine Abzweigung entweder zum nächsten Merkmal oder bereits zu einer Entscheidung. Weitere Verzweigungen gibt es nicht (Abb. 1). Lediglich das letzte Merkmal verzweigt sich in zwei mögliche Entscheidungen [2]. Durch diese Struktur zeigen die Entscheidungsbäume implizit auf, welche weiteren Informationen ignoriert werden können.
Bisherige Studien in der Finanzwelt, Grenzsicherung, Medizin und Psychiatrie haben bestätigt, dass Fast-and-frugal Trees schnelle und zuverlässige Entscheidungen ermöglichen [z.B. 3]. Sie lassen sich als grafisch aufbereitete, leicht verständliche Baumstruktur sowohl digital in Apps und auf Internetseiten als auch analog auf Postern und Broschüren verwenden.
Entwicklung eines Fast-and-frugal Trees für die Prüfung von Gesundheitsinformationen
Der Fast-and-frugal Tree soll Verbraucher darin unterstützen, diejenigen Gesundheitsinformationen auszusortieren, die nicht zu informierten Entscheidungen führen, weil die Leser mögliche Nutzen und Schäden von Entscheidungsoptionen nicht nachvollziehen können. Auf Basis der analysierten Gesundheitsinformationen wurden ein Trainings- und ein Testdatensatz erstellt. Zusätzlich wurde jedes Informationsangebot von je drei Experten aus der Forschung zu Gesundheitsinformationen, von Krankenversicherungen, vom Netzwerk Evidenzbasierte Medizin sowie von Mitgliedern von Gesundheitsverbänden mit Berufserfahrung im Bereich Gesundheitsinformationen bewertet. Die Experten beantworteten die Frage: „Ermöglicht diese Gesundheitsinformation eine informierte Entscheidung?“ auf einer Skala von 1 bis 4. Der Median von je drei Einschätzungen beziffert die Verlässlichkeit der Gesundheitsinformation. Die Experten erhielten dabei keinerlei Informationen über die vorab ausgewählten Qualitätsmerkmale.
Basierend auf unabhängigen Kodierungen von Laien und wissenschaftlichen Assistenten sowie auf statistischer Merkmalselektion reduzierten wir erst die Anzahl möglicher Qualitätsmerkmale für den Entscheidungsbaum. Die darauffolgende statistische Entwicklung des Entscheidungsbaums basierte auf verschiedenen Methoden, wie zum Beispiel auf den im Software-Paket FFTrees implementierten Algorithmen [4].
Die Kreuzvalidierung des Fast-and-frugal Trees basierend auf unserem Testdatensatz zeigt seine hohe Zuverlässigkeit. Benutzt man diesen einfachen Entscheidungsbaum, dann warnt er bei neun von zehn Gesundheitsinformationen, bei denen Experten ebenfalls angeben, dass diese Informationen dem Nutzer nicht zu einer informierten Entscheidung verhelfen. Jedoch zieht der Entscheidungsbaum nur bei sechs von zehn Fällen, die laut Experten informiertes Entscheiden ermöglichen, denselben Schluss. Ein vergleichender Test mehrerer Entscheidungsinstrumente wird derzeit geplant.
Eine experimentelle Evaluation mit 204 Personen (62 Prozent weiblich, Durchschnittsalter 40 Jahre) zeigte, dass der Fast-and-frugal Tree die Beurteilung von Gesundheitsinformationen unterstützt. Experten bewerteten die Suchergebnisse der Nutzer unterschiedlich: ohne Entscheidungsbaum auf einer vierstufigen Ratingskala (1–4) mit 2,7 (eher keine informierte Entscheidung) und jene der Nutzer mit Baum mit 2,4 (eher eine informierte Entscheidung).
Das RisikoAtlas-Projekt – Entscheidungsbäume für Verbraucherinnen und Verbraucher
Die weite Verbreitung des Fast-and-frugal Trees über eine Verbraucher-App [5] zeigt, wie Forschung und Transferarbeit bereits heute Verbraucher bei der kritischen Bewertung von digitalen Informationen stärken können. Damit wird eine wesentliche Voraussetzung für eine nutzbringende Digitalisierung geschaffen. Weitere kompetenzfördernde Fast-and-frugal Trees unterstützen Verbraucher unter anderem bei der Direktanlage im Internet, bei Finanzberatungen oder der informierten Wahl eines Telematiktarifs bei einer Versicherung.
Risikokompetente Verbraucherinnen und Verbraucher hinterfragen nicht nur analoge, sondern auch digitale Informationen und Informationsangebote. Aber auch kompetenzfördernde Entscheidungsbäume sind nur eine Lösung auf Zeit. Wenn das Gesamtangebot des Marktes unausgewogen oder nicht qualitätsgesichert ist, dann hilft Komplexitätsreduktion nicht mehr. Qualitätsgesicherte Evidenz zum Nutzen-Schaden-Verhältnis ist bei jedem digitalen Angebot unabdingbar – ohne sie ist die Digitalisierung für die Verbraucher von unbekanntem Wert und wird am Ende scheitern.
Das RisikoAtlas-Projekt wird aufgrund eines Beschlusses des deutschen Bundestages aus Mitteln des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz (BMJV) gefördert. Die Projektträgerschaft erfolgte über die Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung (BLE) im Rahmen des Programms zur Innovationsförderung.