Landkarte der Embryonalentwicklung
Neue Technologie ermöglicht Einzelzell-Analyse der embryonalen Entwicklung bei der Maus
Die Organentwicklung von Säugetieren ist ein erstaunlicher Prozess. Nach der Verschmelzung von Eizelle und Spermium entsteht durch Teilung ein zunächst undifferenzierter Haufen von Zellen, die alle gleich sind. Innerhalb kurzer Zeit entwickeln sie sich zu den drei sogenannten Keimblättern. Diese geordneten Zellschichten stellen den ersten Differenzierungsschritt des sich entwickelnden Embryos dar. Aus den Keimblättern entstehen im weiteren Verlauf die verschiedenen Gewebe und Organe, aus denen sich der Organismus zusammensetzt. All diese Entwicklungen finden im ersten Drittel der Embryonalentwicklung statt.
Die Methode, mit der es den anfangs identischen Zellen gelingt, sich trotz gleicher Erbsubstanz in unterschiedliche Richtungen zu entwickeln, ist die Aktivierung unterschiedlicher Gene zu unterschiedlichen Zeitpunkten. Kommt es hier zu Fehlern, ist also in diesem Zeitraum ein falsches Gen am falschen Ort aktiv oder nicht aktiv, kann es zu erheblichen Fehlbildungen bei der Entwicklung des Embryos kommen.
Untersuchung der Genaktivität
Die gängigste Methode für die Untersuchung von embryonalen Entwicklungsstörungen besteht darin, sich auf ein einzelnes Organsystem zu konzentrieren und Knockout-Studien durchzuführen. Dabei werden systematisch einzelne Gene ausgeschaltet und dann untersucht, welche Auswirkungen dies auf die sich entwickelnden Organe oder ganzen Organismen hat. Allerdings ist dieser Ansatz, der meistens an Mäusen durchgeführt wird, auf die Untersuchung von einzelnen Tieren und Geweben begrenzt. Ein umfassender Überblick über die dynamischen molekularen Prozesse, die während der Organentwicklung in den einzelnen Zellen ablaufen, kann so nicht gewonnen werden.
„Für solche Untersuchungen stellt die Einzelzell-Analyse eine vielversprechende Alternative dar“, erklärt Malte Spielmann, Gruppenleiter am Max-Planck-Institut für molekulare Genetik in Berlin. Spielmann hat die letzten zwei Jahre als Postdoc bei Jay Shendure und Cole Trapnell an der University of Washington, Seattle, USA, verbracht und dort an der Entwicklung eines Markierungssystems für RNA-Moleküle in Einzelzellen gearbeitet. Gemeinsam mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus Berlin hat das amerikanische Team diese Methode genutzt, um die Aktivität aller Zellen von Mausembryonen im Alter von 9,5 bis 13,5 Tagen zu untersuchen. Die Forschenden beschreiben nun, wie sie die Methode optimiert und angewandt haben, um eine „Landkarte“ der Genaktivität für die Entwicklung von Mausembryonen in diesem Zeitraum zu erstellen.
Markierung des Transkriptoms von Einzelzellen
Um herauszufinden, welche Gene einer Zelle zu einem bestimmten Zeitpunkt der Entwicklung abgelesen werden, also aktiv sind, untersuchten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler das sogenannte Transkriptom. Dies ist die Summe aller RNA-Moleküle einer Zelle, die zu diesem Zeitpunkt von den Genen abgelesen (transkribiert) worden sind. Das als Single Cell Combinatorial Indexing (kombinatorische Markierung von Einzelzellen) bezeichnete Verfahren erlaubt es, die einzelnen RNA-Moleküle einer Zelle mit einem der individuellen Zelle zugeordneten molekularen Barcode zu markieren, ohne dass die Zelle zuvor isoliert werden muss.
Die Wissenschaftler aus Seattle und Berlin haben mit diesem Verfahren die RNA aller Zellen von insgesamt 61 Mausembryonen im Alter zwischen 9,5 und 13,5 Tagen markiert. So konnte jedes RNA-Molekül einem individuellen Embryo und dessen jeweiligen Entwicklungsstadium zugeordnet werden. Anschließend wurde die RNA jeder einzelnen Zelle sequenziert und analysiert. Dadurch wussten die Forscherinnen und Forscher genau, welche Gene zum Zeitpunkt der Untersuchung in der betreffenden Zelle des Embryos aktiv waren.
Vielzahl von bisher nicht bekannten Zelltypen identifiziert
Insgesamt zwei Millionen Einzelzellen haben die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler untersucht. „Auf diese Weise konnten wir genau zeigen, welche Gene jeweils an der Entwicklung der verschiedenen Organe beteiligt sind und wie der zeitliche Ablauf der Entwicklung ist“, erklärt Spielmann. Die bioinformatische Analyse dieser gewaltigen Datenmenge führte Junyue Cao durch, der gemeinsam mit Spielmann Erstauthor der jetzt veröffentlichten Studie ist. 38 unterschiedliche Hauptzelltypen und über 500 Subtypen wurden identifiziert – und viele davon sind vorher noch nie beschrieben worden.
Mithilfe einer eigens für diese Untersuchungen entwickelten Software namens Monocle 3 gelang es dem Team sogar zu zeigen, wie sich die Genaktivität von bestimmten Zelltypen im Lauf der Entwicklung verändert und wie stark sich bestimmte Zelltypen im Untersuchungszeitraum vermehrt haben. Solche „Entwicklungsbahnen“ der Organentwicklung konnten für 56 verschiedene Zelltypen beschrieben werden.
MOCA – ein Einzelzell-Atlas der Organentwicklung der Maus
Ihre Ergebnisse haben die Forscherinnen und Forscher in einem „Einzelzell-Atlas der Organentwicklung der Maus“ (MOCA – Mouse Organogenesis Cell Atlas) zusammengetragen. „MOCA ist ein wichtiger Schritt für die Erforschung von embryonalen Fehlbildungen und stellt eine grundlegende Ressource für den Bereich der Entwicklungsbiologie von Säugetieren dar“, so Spielmann. „Durch die Einzelzell-Analyse von ganzen Embryonen können klassische Fragen der Entwicklungsbiologie digital am Computer bearbeitet werden. Dies stellt einen ersten Schritt zum digitalen Embryo dar, mit dem in Zukunft auch ein Teil der Tierversuche vermieden werden kann“, hofft er. Diese sind im Bereich der Entwicklungsbiologie für die Aufklärung der Grundlagen leider immer noch erforderlich.
Die Methoden zur Einzelzell-Untersuchung und zur bioinformatischen Untersuchung sind frei verfügbar und können von anderen Gruppen für die Untersuchung von Einzelzellen verwendet werden. Auch der Atlas und alle zugrundeliegenden Daten sind frei zugänglich und können von der gesamten wissenschaftlichen Gemeinschaft genutzt werden, um zu einem besseren Verständnis von Mutationen und embryonalen Fehlbildungen beizutragen.