Das Rückgrat der Nacht

Einer gigantischen Spirale gleich, treibt das Milchstraßensystem im Weltall

Jahrtausendelang rätselten die Menschen über jenes milchige Band, das sich über das gesamte Firmament erstreckt. In der Neuzeit entdeckte Galileo Galilei, dass diese Milchstraße aus unzähligen Sternen besteht. Aber erst im 20. Jahrhundert gelang es den Astronomen, ihre Form und wahre Natur zu entschlüsseln.

Text: Helmut Hornung

„Meine dritte Beobachtung betrifft das Wesen der Milchstraße (...) Auf welchen ihrer Abschnitte man das Fernrohr auch richten mag, sogleich zeigt sich dem Blick eine ungeheure Menge von Sternen, von denen mehrere ziemlich groß und sehr auffallend sind; die Anzahl der kleinen jedoch ist schlechthin unerforschlich.“ Im März des Jahres 1610 schreibt das ein Mann, der mit einem selbstgebauten Fernrohr unbekannte Länder erforscht hat, die nicht von dieser Welt sind. Damit wird er in die Geschichte eingehen: Galileo Galilei.

Das Land ist buchstäblich nicht von dieser Welt, und so trägt die Schrift den Titel Sidereus Nuncius („Der Sternenbote“). Darin schildert der italienische Mathematiker und Astronom seine Beobachtungen der Jupitertrabanten, des Erdmondes und eben der Milchstraße. Deren Natur war bis dahin rätselhaft und vor allem Gegenstand der Mythologie. Dabei hatte schon der griechische Naturphilosoph Demokrit im 5. Jahrhundert vor Christus behauptet, das diffus leuchtende Himmelsband – von den afrikanischen !Kung-Buschmännern „Rückgrat der Nacht“ genannt – bestehe aus unzähligen schwachen Sternen.

Schleifstein am Firmament

Nach der Entdeckung Galileis sollten aber noch einmal nahezu 150 Jahre vergehen, bis sich ein Wissenschaftler Gedanken über das Gebilde macht: Thomas Wright of Durham glaubt, die Sterne seien in einer flachen, einem Schleifstein ähnlichen Region angeordnet, die um den gesamten Himmel reicht. Die Milchstraße sei nichts anderes als die Projektion dieses Schleifsteins. Der deutsche Philosoph Immanuel Kant greift die These auf – und kommt der Wahrheit sehr nahe.

In seiner im Jahr 1755 erschienenen Allgemeinen Naturgeschichte und Theorie des Himmels erklärt Kant die Milchstraße als ausgedehnte, sehr dünne Schicht von Sternen. Sonne, Erde und alle übrigen Planeten befinden sich innerhalb dieser Schicht, jedoch nicht in deren Mittelpunkt. Abhängig von der Blickrichtung, in die Ebene der Schicht hinein oder senkrecht dazu heraus, sehen wir unterschiedlich viele Sterne.

Wie aber sollten die Astronomen herausfinden, ob der scheinbare Anblick der Milchstraße am Himmel deren tatsächliche räumliche Struktur widerspiegelt? Eine Lösung verhieß die von Friedrich Wilhelm Herschel Ende des 18. Jahrhunderts erfundene Stellarstatistik: die Erfassung aller im Fernrohr sichtbaren Sterne nach Koordinaten und Helligkeiten.

Abgesehen von der Unsicherheit dieser Messungen – so konnten zwar die scheinbaren Sternhelligkeiten bestimmt werden, nicht aber deren absolute Leuchtkräfte und somit auch nicht deren Entfernungen – scheiterte das Unterfangen an einem grundsätzlichen Problem: Die Milchstraße steckt voller interstellare Materie, Gas- und Staubwolken, die das Sternlicht absorbieren. Das behindert die Sicht auf das Zentrum und verbirgt insgesamt den Blick auf die übergeordnete Struktur. Daher kann die Stellarstatistik niemals das System als Ganzes erfassen, sondern nur die Umgebung unserer Sonne bis zu einem Umkreis von rund 10.000 Lichtjahren. Der Durchbruch gelang erst, als die Astronomen Mitte des 20. Jahrhunderts gelernt hatten, den Himmel mit anderen Augen zu betrachten: mit Radioteleskopen.

Blick durch Staubvorhänge

Wasserstoff ist das häufigste Element im Weltall. Als Teil der interstellaren Materie erfüllt der neutrale Wasserstoff (H I) den Raum zwischen den Sternen und damit die Milchstraße. Das heißt: Die Verteilung der Wolken aus Wasserstoffgas zeichnet die Form des gesamten Systems nach – ähnlich wie Knochen den menschlichen Körper.

Wie aber lassen sich diese kosmischen „Knochen“ sichtbar machen? Die Antwort liefert die Welt des Allerkleinsten: Im Grundzustand des Wasserstoffs sind die Rotationsachsen des Atomkerns und des ihn umkreisenden Elektrons unterschiedlich ausgerichtet. Stoßen zwei Wasserstoffatome zusammen, richten sich die Rotationsachsen von Kern und Elektron parallel zueinander aus – und fallen nach einer gewissen Zeit wieder in den Grundzustand zurück.

Bei dem beschriebenen Vorgang wird Energie frei und als elektromagnetische Welle abgestrahlt. Diese Linie liegt im Radiobereich des elektromagnetischen Spektrums. Trotz der extrem geringen Dichte der interstellaren Materie stoßen ständig Atome zusammen und lassen die H I-Gebiete im Licht dieser Wasserstoff-Linie leuchten.

 Diese Strahlung durchdringt nahezu ungehindert die Staubvorhänge und kann von Radioteleskopen aufgefangen werden. Dank dieses neuen Fensters zum All entdeckten die Astronomen die Spiralstruktur der Milchstraße. Doch in den 1970er-Jahren fanden die Forscher heraus, dass der Wasserstoff allein als Indikator für die Form nicht ausreicht, weil er zum Beispiel in den Spiralarmen weniger stark konzentriert ist als erwartet. Die Suche begann aufs Neue.

Arme in Bewegung

Als wichtigster Indikator entpuppten sich interstellare Molekülwolken; sie leuchten im Licht von Kohlenmonoxid (CO). Jetzt gelang es allmählich, das Porträt der Milchstraße zu verfeinern. Demnach gleicht die Galaxis (von griechisch gala = Milch) einem Rad mit Achter, das einen Durchmesser von 100.000 Lichtjahren und eine Dicke von lediglich 5000 Lichtjahren besitzt. Um die Nabe mit dem schwarzen Loch liegt eine leuchtende, sphärische Ausbeulung (englisch bulge), in die eine zigarrenförmige Struktur – eine Art Balken – eingebettet ist.

Rund 15.000 Lichtjahre vom Zentrum entfernt erstreckt sich ein Ring, der ebenfalls aus Staub- und Gaswolken sowie Sternen besteht. Charakteristisches Merkmal der Galaxis sind mehrere Arme. Sie tragen meist die Namen jener Sternbilder, in denen wir sie am Firmament beobachten: Sagittarius- und Perseusarm, Norma- und Scutum-Crux-Arm, Drei-Kiloparsec-Arm und Äußerer Arm.

Unser Planetensystem liegt inmitten des Orionarms, 26.000 Lichtjahre vom Zentrum entfernt, praktisch in der Hauptebene. Umgeben ist das etwa 200 Milliarden Sonnen zählende System vom galaktischen Halo mit Tausenden Kugelsternhaufen sowie einem sphärischen Bereich aus sehr dünnem Wasserstoffplasma. Die gesamte Galaxis rotiert – die zentrumsnahen Objekte schneller, die zentrumsfernen langsamer. Die Kurve dieser differenziellen Rotation weist Unregelmäßigkeiten auf, die sich durch die sichtbare Masse allein nicht erklären lassen.

Eine Rolle spielt hier wahrscheinlich die unsichtbare Dunkle Materie. Und noch ein Problem haben die Astronomen: Die Spiralarme wickeln sich trotz der Rotation nicht auf, sondern bleiben über mehrere Milliarden Jahre „in Form“. Eine Erklärung dafür sind Stoßwellen, die sich durch das gesamte System fortpflanzen und die Materie in den Spiralarmen verdichten wie ein Stau auf der Autobahn den Verkehr. Über die Ursache dieser Dichtewellen rätseln die Forscher noch.

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