„In zehn Jahren werden wir wissen, welche Tiere Naturkatastrophen vorhersagen können“
Interview mit Martin Wikelski zum geglückten Transport der Icarus-Antenne zur Internationalen Raumstation
Seit dem 13. Februar befinden sich zwei wesentliche Komponenten der Icarus-Mission im All. Nach dem Bordcomputer, der im Oktober 2017 zur Internationalen Raumstation ISS geflogen war, hat nun eine weitere Sojus Progress-Rakete die Antennen des deutsch-russischen Kooperationsprojekts Icarus zur ISS gebracht. Martin Wikelski, Direktor am Max-Planck-Institut für Ornithologie in Radolfzell und Leiter der Icarus-Mission, erzählt vom ersten Countdown seines Lebens und wie es nun mit dem System zur globalen Tierbeobachtung weitergeht.
Wie fühlt man sich, wenn man bei einem Ereignis dabei ist, bei dem so viel auf dem Spiel steht?
Wikelski: Der Weltraumbahnhof mitten in der kasachischen Steppe ist schon ein ganz besonderer Ort. Wenn man dann neben einem der riesigen Tore steht und die Rakete aus dem Hangar gerollt kommt, ist einem schon ein wenig mulmig zumute. Meine Kollegen und ich haben so viel Zeit und Energie in die Entwicklung von Icarus gesteckt – all das kann in Sekunden in Rauch aufgehen. Wir wissen ja schließlich, dass nicht jeder Start klappt.
Nachdem die Antenne sicher auf der ISS angekommen ist – was geschieht nun mit ihr?
Zunächst wird sie innerhalb des russischen Moduls der Raumstation zwischengelagert. Im August wird sie dann auf der Außenseite montiert. Das ist nochmal ein kritischer Augenblick. Wenn beim Weltraumspaziergang der beiden russischen Kosmonauten Oleg Artemyev und Sergei Prokopiev alles gutgeht, haben wir die größte noch ausstehende Hürde bewältigt.
Für Icarus ist 2018 ja das entscheidende Jahr. Worauf freuen Sie sich denn am meisten in den kommenden Monaten?
Die erste Datenübertragung von der ISS – ganz klar! Wenn wir die ersten Testdaten von der Raumstation empfangen und wissen, dass das System funktioniert, werde ich für einen Moment der glücklichste Mensch der Welt sein.
Dann testen wir noch einmal zwei Monate lang, ob die Antennen und der Bordcomputer funktionieren und die Datenübertragung klappt. Und dann kann es im Herbst oder Ende des Jahres endlich losgehen.
Mit Icarus können Wissenschaftler erstmals tausende von Tieren auf ihren Reisen rund um den Globus beobachten – und das über Monate und Jahre hinweg, rund um die Uhr. 150 Forschungsprojekte warten schon darauf, von den neuen Möglichkeiten Gebrauch zu machen. Was sind die drängendsten Fragen, die Icarus beantworten kann?
An erster Stelle würde ich da die Zugvögel nennen. Ihre Zahl nimmt weltweit gerade so dramatisch ab, und wir wissen oft weder, wo sie verschwinden und warum. Wenn wir hier nicht schnell Antworten bekommen, damit wir Gegenmaßnahmen ergreifen können, wird es für viele Arten zu spät sein. Dasselbe gilt für die massiv ausgebeuteten Fischbestände sowie viele Meeressäuger in den Ozeanen.
Außerdem müssen wir dringend mehr darüber wissen, wie Tiere Krankheitserreger verbreiten. Wie kommt die Vogelgrippe nach Europa? In welchen Tieren kommt das Ebola-Virus vor? Künftig wollen wir deshalb mit Icarus die Flugrouten von Wasservögeln in Asien und Flughunden in Afrika verfolgen. Beide gelten als mögliche Überträger der Erreger.
Und zu guter Letzt werden wir in zehn Jahren wissen, welche Tierarten Naturkatastrophen vorhersagen können. Erste wissenschaftliche Daten von Erdbeben und Vulkanausbrüchen legen nahe, dass verschiedene Tiere solche Ereignisse Stunden vorher spüren. Wenn wir diese Fähigkeiten hieb- und stichfest belegen können, würde dies in Zukunft hunderttausenden Menschen das Leben retten.
Wenn Sie Ihren Blick in die Zukunft richten – wie wird Icarus in zehn Jahren aussehen?
Zunächst einmal wird die Zahl an Forschungsprojekten, die Icarus nutzen, in den nächsten Jahren stark ansteigen. Ich könnte mir vorstellen, dass 2028 mehrere Tausend Projekte über das System wissenschaftliche Daten gewinnen werden. Hunderttausende von Tieren könnten dann mit unseren dann noch viel kleineren Sendern ausgestattet sein.
In zehn Jahren wird Icarus zudem vermutlich nicht nur auf der ISS, sondern auch auf mehreren Satelliten stationiert sein. Damit ließen sich auch die Gebiete erfassen, die Icarus im Moment nicht abdecken kann. Mit zusätzlichen Satelliten können wir vor allem die wissenschaftlich besonders interessanten Regionen über dem 55. Breitengrad in Europa, Asien und Nordamerika erschließen.
Sobald Icarus in der Luft ist, wird sich ja auch für Sie persönlich manches ändern. Wie wird Ihr Arbeitsalltag dann aussehen?
Ich werde mich Gott sei Dank wieder mehr mit meinen eigenen Forschungsprojekten befassen können. Die letzten Jahre musste meine wissenschaftliche Arbeit leider manchmal zugunsten von Icarus zurückstecken. Das soll nun wieder anders werden. Ab Juli werde ich ein Wissenschafts-Sabbatical nehmen und mich wieder ganz auf die Forschung konzentrieren.
Herzlichen Dank für das Gespräch!
Das Interview führte Harald Rösch